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Wissenschaften erschienen zu damaliger Zeit noch nicht als gleich
berechtigt auf dem Plan; die demonstrativen Disziplinen bildeten
den Vorkurs der Arzneiwissenschaft, die exakten bildeten die
sogenannte Mathesis applicata. Auch in ersteren lenkte man
mit Vorliebe auf die ursprünglichen Quellen zurück; und wenn
man auch aus des Plinius und Dioscorides Pflanzenbeschrei
bungen und aus des Aristoteles Thiergeschichte manch’ mon
ströse Fabel mit herübernehmen musste, so lernte man doch von
ihnen die im Mittelalter fast ganz verloren gegangene Kunst,
liebevoll die Natur und ihre Erscheinungen selbst zu befragen;
der Sinn für die Natur und ihre Schönheit, dessen Förderung
nach A. v. Humboldt 1 ) mit derjenigen der Natur-Erkenntniss
im unmittelbarsten Zusammenhänge steht, gewann auf diesem
Wege unendlich mehr als durch das eifrigste Studium verderbter
arabischer Texte. Und auch die angewandte Mathematik konnte
im Grossen und Ganzen aus ihrem historischen Grunde nur Vor
theil ziehen. Die Astronomie des Ptolemaeus hatte erst an
gefangen, den besonders erleuchteten Geistern nicht mehr zu ge
nügen, für die Musik hatte man in der Intervallenlehre des
Pythagoras und in der Kanonik des Euclid eine völlig aus
reichende Grundlage, die Optik und Katoptrik des Letzteren
enthielten zwar nicht viel und dazu nicht immer fehlerfreien
Stoff, dafür hatte man die weitschichtige nach arabischen Vor
bildern gearbeitete Sammlung des Thüringers Witelo*). Nur
die mechanische Physik befand sich in übler Lage, denn statt
auf die schwer verständlichen geo- und hydrostatischen Schriften
des Archimedes bezog man sich weit lieber auf die durch
ihre laxe Denk- und Ausdrucksweise bequem erscheinende
Naturphilosophie des Aristoteles.
Das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert schuf beson
ders auf mathematisch-naturwissenschaftlichem Gebiete ungemein
viel Neues und Grosses, und man könnte wohl erwarten, dass
der eminente Fortschritt, welcher sich damals vollzog, den Sinn
für historische Studien völlig in den Hintergrund gedrängt haben
müsste. Und doch war diess keineswegs der Fall — im Gegen-
*) Wir nehmen in Rücksicht auf die Nachforschungen Curtze’s keinen
Anstand mehr, den „Thuringopolonus Vitellio“ in deutschem Gewände
aufzufnhren 2).