Full text: Briefwechsel zwischen Carl Friedrich Gauss und Christian Ludwig Gerling

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Meiner Ansicht nach ist ein sehr großer Teil seines linkischen 
Wesens darauf zu schreiben, daß er nach der Mutter Tod und vor 
seiner Übersiedlung zu der Tante hart behandelt, wahrscheinlich 
mißhandelt zu sein scheint. Vielleicht behält er, wie so manches 
in seiner Jugend verwahrloste Kind, die Spuren zeitlebens. Seine 
Ängstlichkeit, andern Personen unhöflich zu erscheinen, verleitete 
ihn auch hier oft unhöflich zu sein, und war wirklich mitunter 
lächerlich. Ich lege einen Brief an ihn sub volante bei, den ich 
ihm nach Lesung zu geben bitte. 
Wissen Sie etwas Näheres über den jetzt in Leipzig dozieren 
den Professor der Staatswissenschaften Roscher f 1 ], namentlich 
über die Frage, ob er ein gewissenhafter Lehrer ist, so tun Sie mir 
einen großen Gefallen, wenn Sie es mir mitteilen. Es ist die Frage 
davon bei uns gewesen, ob man ihn nicht an Hildebrands [ 2 ] Stelle 
hier Vorschlägen solle, ich traue aber dem Landfrieden nicht eher, 
als bis ich weiß, daß er die Heiligkeit des Lehrerberufs höher setzt, 
als die eitlen Bestrebungen vieler unserer Professoren des Fachs, 
Einfluß auf politische Verhältnisse zu gewinnen. 
Wegen des Pendels schreibe ich ein andermal, so Gott will, 
weitläuftiger. Vorderhand will ich nur die sichere Tatsache be 
merken, daß ein gehörig eingeklemmter Metalldraht die Kugel 
durch seine Torsion immer so dreht, daß ihre eigenen Vertikal 
kreise immer in ihren ursprünglichen Azimuten bleiben. Ich habe 
dieses in allen Azimuten der Schwingungsebene, die sich doch 
mitunter 20, ja 30 Grad während der Versuche änderte, bewährt 
gefunden. 
Entschuldigen Sie die Hast, womit ich diesen Brief schreibe. 
Meine ganze Zeit, Kraft und Seele ist seit den letzten Wochen nur 
von dem einen Gegenstand in Anspruch genommen, dem Bestre 
ben, meine arme kranke Tochter in einer guten Heilanstalt unter 
zubringen, denn die Zufälle kehrten periodisch mit neuer Heftig 
keit wieder. — Dazu kommt das Ihnen aus der Zeitung bekannte 
Unglück [ 3 ] meiner ältesten, auch im Bett liegenden Tochter. — 
Von Amerika aber gottlob am 13. gute Nachrichten bis zum 
4. Januar. Mit den herzlichsten Grüßen an das liebe Thereschen 
In großer Eile. 
der Ihrige 
Gerling. 
[* Roscher, Wilhelm, geh. 1817, gest. 1894; der berühmte Leipziger National 
ökonom.] 
[ 2 Hildebrand, Bruno, geh. 1812, gest. 1878; seit 1841 ord. Professor d. Staatswissen 
schaften a. d. Univ. Marburg, 1851 desgl. a. d. Univ. Zürich; seit 1861 Prof. a. d. 
Universität Jena.] 
[ 3 Ihr Gatte, Professor Carl Winkelblech, war 1852 wegen Teilnahme an der revolu 
tionären Bewegung in Kurhessen (1848) wegen Hochverrats angeklagt, wurde aber 1853 
freigesprochen. Siehe auch die Anmerkung zu Brief Nr. 300, S. 580.]
	        
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