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Meiner Ansicht nach ist ein sehr großer Teil seines linkischen
Wesens darauf zu schreiben, daß er nach der Mutter Tod und vor
seiner Übersiedlung zu der Tante hart behandelt, wahrscheinlich
mißhandelt zu sein scheint. Vielleicht behält er, wie so manches
in seiner Jugend verwahrloste Kind, die Spuren zeitlebens. Seine
Ängstlichkeit, andern Personen unhöflich zu erscheinen, verleitete
ihn auch hier oft unhöflich zu sein, und war wirklich mitunter
lächerlich. Ich lege einen Brief an ihn sub volante bei, den ich
ihm nach Lesung zu geben bitte.
Wissen Sie etwas Näheres über den jetzt in Leipzig dozieren
den Professor der Staatswissenschaften Roscher f 1 ], namentlich
über die Frage, ob er ein gewissenhafter Lehrer ist, so tun Sie mir
einen großen Gefallen, wenn Sie es mir mitteilen. Es ist die Frage
davon bei uns gewesen, ob man ihn nicht an Hildebrands [ 2 ] Stelle
hier Vorschlägen solle, ich traue aber dem Landfrieden nicht eher,
als bis ich weiß, daß er die Heiligkeit des Lehrerberufs höher setzt,
als die eitlen Bestrebungen vieler unserer Professoren des Fachs,
Einfluß auf politische Verhältnisse zu gewinnen.
Wegen des Pendels schreibe ich ein andermal, so Gott will,
weitläuftiger. Vorderhand will ich nur die sichere Tatsache be
merken, daß ein gehörig eingeklemmter Metalldraht die Kugel
durch seine Torsion immer so dreht, daß ihre eigenen Vertikal
kreise immer in ihren ursprünglichen Azimuten bleiben. Ich habe
dieses in allen Azimuten der Schwingungsebene, die sich doch
mitunter 20, ja 30 Grad während der Versuche änderte, bewährt
gefunden.
Entschuldigen Sie die Hast, womit ich diesen Brief schreibe.
Meine ganze Zeit, Kraft und Seele ist seit den letzten Wochen nur
von dem einen Gegenstand in Anspruch genommen, dem Bestre
ben, meine arme kranke Tochter in einer guten Heilanstalt unter
zubringen, denn die Zufälle kehrten periodisch mit neuer Heftig
keit wieder. — Dazu kommt das Ihnen aus der Zeitung bekannte
Unglück [ 3 ] meiner ältesten, auch im Bett liegenden Tochter. —
Von Amerika aber gottlob am 13. gute Nachrichten bis zum
4. Januar. Mit den herzlichsten Grüßen an das liebe Thereschen
In großer Eile.
der Ihrige
Gerling.
[* Roscher, Wilhelm, geh. 1817, gest. 1894; der berühmte Leipziger National
ökonom.]
[ 2 Hildebrand, Bruno, geh. 1812, gest. 1878; seit 1841 ord. Professor d. Staatswissen
schaften a. d. Univ. Marburg, 1851 desgl. a. d. Univ. Zürich; seit 1861 Prof. a. d.
Universität Jena.]
[ 3 Ihr Gatte, Professor Carl Winkelblech, war 1852 wegen Teilnahme an der revolu
tionären Bewegung in Kurhessen (1848) wegen Hochverrats angeklagt, wurde aber 1853
freigesprochen. Siehe auch die Anmerkung zu Brief Nr. 300, S. 580.]