2 Begriff der Variations-Rechnung.
Lagrange, welcher den Anfang seiner Laufbahn durch seine
Entdeckung der Variations-Rechnung auszeichnete, machte von
dieser auch eine höchst wichtige Anwendung auf die Mechanik,
deren Zweck man leicht überschauen kann, wenn man bemerkt,
daß man die Coordinaten der verschiedenen Punkte eines sich be
wegenden Körpers, entweder zur Beziehung zweier Punkte auf
denselben Augenblick, oder zur Verbleichung zweier aufeinander
folgenden Lagen desselben Punktes, in Betrachtung ziehen kann.
In dem einen dieser Fälle findet zwischen den Coordinaten keine
andere Abhängigkeit Statt, als diejenige, welche aus den den Kör
per begrenzenden Flächen entspringt; in dem andern ändern sich
die Coordinaten den Bedingungen der vorgeschriebenen Bewegung
gemäß, und mit einer neuen Veränderlichen, welche das Maß
der Zeit ist. Hier erscheinen also wiederum zwei Arten, diesel
ben Größen variiren zu lassen, welche zweckmäßig durch verschie
dene Bezeichnungen unterschieden werden. Diejenige Art, welche
auf die vorhergehende folgt, veranlaßt die Variations-Rech
nung, deren mannichfaltige Richtungen nur dadurch zusammen
gefaßt werden können, daß man ihr den Zweck beilegt,
Größen, welche schon unter einem Gesichtspunkte
differentiirt worden, unter einem neuen nochmals
zu differentiiren. Man stellt hierauf bei dem Zweiten Dif
ferentiations-Verfahren eine der Gattung der aufzulösenden Auf
gaben angemessene Hypothese aus. *)
§. 357.
Lagrange bezeichnet die neue Differentiation mit dem Zei
chen d, und dieser Gebrauch hat überall Eingang gefunden. Um
meine Grenzen nicht zu überschreiten, werde ich mich darauf
beschränken, die Prinzipien der Anwendung der Variations-Rech
nung auf geometrische Aufgaben zu entwickeln.
Bei diesen Aufgaben wird das Zeichen d beim Uebergange
von einem Punkte zu einem andern auf derselben krummen Linie
und das Zeichen d beim Uebergange von einer krummen Linie
zu einer andern angewandt. So wird M'fi durch dj (60) und
Mp durch dy bezeichnet, woraus folgt:
P'M'=y-J-dy, Pp=y-}-dy.
Geht man vom Punkte M' zum Punkte p über, und zieht
dann pv parallel mit MM', so wird man sehen, daß
pv=PQ — M'ß = d.P^ — d.PM
') Siche die „Mécanique analytique , 2e eclit.“ B. 1. S. 80.