I. Das Ziffernsystem der Ägypter.
(Hierzu Tafel I.)
Allüberall auf Erden sehen wir den Menschen, wo er mit Zahlen
operiert, in seinem Denken wie in seinem Sprechen durchaus im Banne
des Dezimalsystems, das ihm die Natur in seinen Fingern — in des Wortes
wahrer Bedeutung — an die Hand gegeben hat 1 ). Man hat dieses System,
das die Menschen oft wegen der beschränkten Teilbarkeit der Grundzahl
10 als unbequem empfunden haben, und das sie in alten Zeiten verschie
dentlich, stets unvollständig und im wesentlichen erfolglos, durch andere
praktischere Systeme wie das Duodezimal- und das Sexagesimalsystem
zu durchkreuzen getrachtet haben, treffend mit einem Netze verglichen, aus
dessen Maschen sich die Menschheit nun einmal nicht wieder befreien
könne 2 ).
Auch die alten Ägypter waren in die Maschen dieses Netzes fest
verstrickt. Sie haben sich aber, im Unterschied zu andern Yölkern des
Altertums, als praktische Leute in das Unvermeidliche gefügt und sich
mit diesem ihre Sprache, wie alle andern Sprachen der Erde, nun einmal
beherrschenden Zahlensystem 'ein für allemal abgefunden. Die Ägypter
haben sich daher ein Ziffernsystem auf rein dezimaler Grundlage in der
denkbar zweckmäßigsten Weise angelegt, so vortrefflich, wie das vor der
Entdeckung des Stellenwertes der Zahlen und des Zeichens für Null
durch die Inder überhaupt möglich war.
*) Auch wo die 5 als Zahl der Finger einer Hand (z. B. in den polynesischen Sprachen)
und die 20 als Zahl der Finger und Zehen (z. B. bei den Basken) eine ähnliche Bolle spielen,
wie bei uns die 10, und man von einer quinären oder vigesimalen Zählweise reden kann,
fällt die Sprache schließlich doch immer wieder in das Dezimalsystem zurück (s. u. II 3).
Sie bezeichnet beispielsweise wohl 6 als 5 + 1, 7 als 5 + 2 usw., verfährt dann aber von
10 an doch wieder genau wie unsere Sprachen, indem sie 11 als 10 +- 1, 12 als 10 4- 2 usw.
und 30 als 3 X 10, 40 als 4 X 10 usw. bezeichnet, und für 100 ein neues Wort bildet (so
z. B. in den poly- und melanesischen Sprachen).
2 ) Jakob Wackernagel in seinem Bericht über die am 16. Juni 1913 abgehaltene
Jahresfeier der Georg-August-Universilät usw. S. 15.
Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg XXV. 1