22 Drittes Kapitel: Stochastische Verbundenheit [§ 1
hatten 6 Blumenblätter; aber über | der gezählten Exemplare hatten
5 Blumenblätter, über ^ — 7 Blumenblätter, und an zwei Exemplaren
fand er sogar je 9 Blumenblätter. Beim Flieder, wo die Blüten mit
4 Blumenblättern stark überwiegen, trifft man gelegentlich Blüten mit
5 und Blüten mit 3 Blumenblättern. Selbst in dem Falle also, wenn
unser Botaniker nicht ein Exemplar, sondern hunderte pflückt, bleibt
er immer noch beim Zettelziehen aus der Urne der Natur; er hat zwar
zahlreiche, aber doch nur Proben vor sich.
Wir können noch weiter gehen. Angenommen, daß es unserem Bo
taniker gelingt, alle zurzeit auf der Erde vorhandenen Exemplare seiner
neu entdeckten Blume in die Hand zu bekommen, wird es sich bei dieser
im Raume erschöpfenden Untersuchung nicht um eine Probe in einem
anderen Sinne handeln, nämlich in Bezug auf die sich von Jahr zu Jahr
erneuernden Generationen? Wenn man es genau nimmt, so hat der
Forscher in allen solchen Fällen mit Proben von Proben zu tun, so wie
der Arzt bei der Blutkörperchenzählung unter dem Mikroskop Proben
des als Probe dem Menschenkörper entnommenen Bluttröpfchens be-
! trachtet.
Diese Überlegungen führen uns zu einer vertieften Auffassung der
Bedeutung des Begriffs der zufälligen Variablen für die wissenschaft
liche Forschung. Zufällige Variablen können im Gesichtsfelde des For
schers nicht nur als Mittel zum Zweck erscheinen — als Ergebnis der
gewollt oder notgedrungen gewählten Arbeitsweise ■—, sondern auch als
unmittelbar vorgegebenes Objekt der Untersuchung, das als solches
in der uns umgebenden und von uns zu erforschenden Umwelt vorliegt.
Die Zahl der Blumenblätter der Trientalis Europaea ist eine zufällige
Variable, welche am häufigsten den Wert 6 annimmt, aber auch andere
Werte zwischen 5 und 9 haben kann, wobei die Wahrscheinlichkeiten der
6 übersteigenden Werte schnell mit dem Zunehmen derselben abnehmen.
Die Körperlänge eines ausgewachsenen Norwegers ist eine zufällige
Variable, welche alle möglichen Werte innerhalb ziemlich weiter Grenzen
mit in erstaunlicher Regelmäßigkeit symmetrisch nach beiden Seiten
der häufigsten Länge abnehmenden Wahrscheinlichkeiten annimmt.
Auf den ursächlichen Mechanismus, auf welchem das Vorkommen sol
cher zufälliger Variablen beruht, näher einzugehen, würde uns zu weit
von unseren eigentlichen Aufgaben ablenken. Für unsere Zwecke ge
nügt der Nachweis, daß die zufällige Variable, deren Begriff wir genau
definiert haben, nicht ein Spielzeug des frei ins Blaue hinein konstruieren
den Mathematikers ist, sondern tatsächlich dem wissenschaftlichen
Forscher auf Schritt und Tritt begegnet, bald alsHilfsmittel, bald als der
eigentliche Gegenstand der Untersuchung.
Die doppelte Bedeutung des Begriffs der zufälligen Variablen für
die Forschung — nämlich der Umstand, daß die zufällige Variable so
wohl als Mittel zum Zweck, wie auch als Selbstzweck beim Forschen
auftreten kann — ist von größter Wichtigkeit für die Theorie der Sta