Full text: Grundzüge der Geometrie von mehreren Dimensionen und mehreren Arten gradliniger Einheiten in elementarer Form entwickelt

Vorrede des Verfassers. 
IX 
zu denen man in einem abstract viel ausgedehnteren Gebiet gekommen ist, 
durchaus nichts von ihrer Geltung. 
Wir machen sogar gradem einen Unterschied mischen der Geometrie und 
ihren praktischen Anwendungen und finden Axiome, ivelche mar nicht für die 
\wissenschaftliche Entwicklung der Geometrie aber für ihre praktischen Anwen 
dungen nöthig sind. 
Die theoretische Geometrie unterscheidet sich desshalb von den übrigen 
äusseren experimentalen Wissenschaften dadurch: sie hat die äussere Beobach 
tung nöthig um ihre eigentlich so genannten Axiome festzustellen, macht sich 
aber schnell von ihr unabhängig, indem sie nicht mehr die Körper selbst son 
dern den Ort, den sie in dem leeren Anschauungsraum einnehmen, betrachtet 
und wird damit sofort zu einer rein deductiven Wissenschaft. r ) Und selbst 
die theoretische Mechanik kann sich streng genommen nicht von den Körpern 
absondern, da z. B. ylas Princip der Bewegung die Körper selbst und nicht 
den von ihnen eingenommenen Ort betrachtet. Jedenfalls bedarf die theore 
tische Geometrie in ihren Grundzügen nicht der nöthigen Beihülfe irgend einer 
andern experimentalen Wissenschaft z. B. der Mechanik und der Physik (wie 
wir in der Folge noch näher ausführen werden), während dagegen diese Wissen 
schaften die Geometrie nöthig haben. 
Wann ist eine mathematische Hypothese möglich? In dem mathematischen 
Gebiet ist die Definition möglich, das Postulat oder die gut bestimmte Hypothese, 
deren Glieder iveder einander, noch den logischen Principien und Operationen, den 
früheren Hypothesen und den Wahrheiten widersprechen, die aus den letzteren 
abgeleitet iverden. 
Gut bestimmt heisst, was nur einem Begriff entspricht, über dessen Be 
deutung kein Zweifel besteht. Eine neue Form oder eine Eigenschaft einer 
gegebenen Form, welche mittelst einer Hypothese festgestellt wurde, darf nicht 
einzig von den vorausgehenden Wahrheiten abhängen, weil sie in diesem Fall 
entweder die unmittelbare Folge dieser Wahrheiten ist oder nicht, in dem letzten 
Fall aber aus ihnen abgeleitet werden muss. 
Eine Hypothese ist mathematisch falsch nur dann, wenn sie eine Eigen 
schaft aufstellt, welche mit den vorhergehenden Wahrheiten oder denjenigen, 
welche sich aus ihnen ableiten lassen, im Widerspruch steht. 
Die Möglichkeit einer Hypothese hängt nicht von ihrer Fruchtbarkeit ab, 
welche den mathematischen Werth der Hypothese liefert. Eine Hypothese 
kann möglich sein und zugleich derart, dass sie zu keinem Resultat führt 
oder das Gebiet unsrer Untersuchungen einschränkt. Es ist dies eine andre 
gewiss sehr wichtige Frage; denn die Hypothese soll der Deduction und dem 
Bedürfniss unsres Geistes, sich keine ungerechtfertigten Schranken bei der 
Erforschung des mathematisch Wahren aufzuerlegen, freies Feld lassen und 
jede Hypothese soll zur Entdeckung neuer Wahrheiten oder zur bessern Ver- 
1) I. Theil S. 225, 226.
	        
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