Vorrede des Verfassers.
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zu denen man in einem abstract viel ausgedehnteren Gebiet gekommen ist,
durchaus nichts von ihrer Geltung.
Wir machen sogar gradem einen Unterschied mischen der Geometrie und
ihren praktischen Anwendungen und finden Axiome, ivelche mar nicht für die
\wissenschaftliche Entwicklung der Geometrie aber für ihre praktischen Anwen
dungen nöthig sind.
Die theoretische Geometrie unterscheidet sich desshalb von den übrigen
äusseren experimentalen Wissenschaften dadurch: sie hat die äussere Beobach
tung nöthig um ihre eigentlich so genannten Axiome festzustellen, macht sich
aber schnell von ihr unabhängig, indem sie nicht mehr die Körper selbst son
dern den Ort, den sie in dem leeren Anschauungsraum einnehmen, betrachtet
und wird damit sofort zu einer rein deductiven Wissenschaft. r ) Und selbst
die theoretische Mechanik kann sich streng genommen nicht von den Körpern
absondern, da z. B. ylas Princip der Bewegung die Körper selbst und nicht
den von ihnen eingenommenen Ort betrachtet. Jedenfalls bedarf die theore
tische Geometrie in ihren Grundzügen nicht der nöthigen Beihülfe irgend einer
andern experimentalen Wissenschaft z. B. der Mechanik und der Physik (wie
wir in der Folge noch näher ausführen werden), während dagegen diese Wissen
schaften die Geometrie nöthig haben.
Wann ist eine mathematische Hypothese möglich? In dem mathematischen
Gebiet ist die Definition möglich, das Postulat oder die gut bestimmte Hypothese,
deren Glieder iveder einander, noch den logischen Principien und Operationen, den
früheren Hypothesen und den Wahrheiten widersprechen, die aus den letzteren
abgeleitet iverden.
Gut bestimmt heisst, was nur einem Begriff entspricht, über dessen Be
deutung kein Zweifel besteht. Eine neue Form oder eine Eigenschaft einer
gegebenen Form, welche mittelst einer Hypothese festgestellt wurde, darf nicht
einzig von den vorausgehenden Wahrheiten abhängen, weil sie in diesem Fall
entweder die unmittelbare Folge dieser Wahrheiten ist oder nicht, in dem letzten
Fall aber aus ihnen abgeleitet werden muss.
Eine Hypothese ist mathematisch falsch nur dann, wenn sie eine Eigen
schaft aufstellt, welche mit den vorhergehenden Wahrheiten oder denjenigen,
welche sich aus ihnen ableiten lassen, im Widerspruch steht.
Die Möglichkeit einer Hypothese hängt nicht von ihrer Fruchtbarkeit ab,
welche den mathematischen Werth der Hypothese liefert. Eine Hypothese
kann möglich sein und zugleich derart, dass sie zu keinem Resultat führt
oder das Gebiet unsrer Untersuchungen einschränkt. Es ist dies eine andre
gewiss sehr wichtige Frage; denn die Hypothese soll der Deduction und dem
Bedürfniss unsres Geistes, sich keine ungerechtfertigten Schranken bei der
Erforschung des mathematisch Wahren aufzuerlegen, freies Feld lassen und
jede Hypothese soll zur Entdeckung neuer Wahrheiten oder zur bessern Ver-
1) I. Theil S. 225, 226.