XVIII
Vorrede des Verfassers.
den, ohne vorher diese Eigenschaft bewiesen oder als Axiom gegeben zu haben.
So kann die Prop. V, Buch XI nicht als bewiesen angesehen werden ohne das
Axiom, dass der Anschauungsraum drei Dimensionen hat u. s. w.
Die Unabhängigkeit der Axiome ferner ist für die Einfachheit der Wissen
schaft nothwendig. Und in der That, könnte man auch nur eine wenn auch
intuitive Eigenschaft, die aber von den früheren abhängt, als Axiom geben, so
würde es erlaubt sein, die Theoreme als augenscheinlich wie Axiome zu be
trachten.
Wenn zwei Axiome oder Theile eines Axioms zwei Eigenschaften einer
gegebenen Figur feststellen, von welchen sich die eine aus der andern ableiten
lässt, so hat man Grund anzunehmen, dass in abstractem Sinn Figuren existiren,
für welche nur eine dieser Eigenschaften gilt. Ein solcher Fehler ist z. B. in
dem Axiom, mit welchem gewöhnlich die Ebene definirt wird, verborgen, dass
nämlich eine Grade, welche zwei Punkte mit der Ebene gemein hat, in derselben
liegt. Mittelst dieser Eigenschaft lässt sich die Ebene entweder ganz oder zum
Theil construiren dadurch, dass man alle Punkte einer Graden mit einem Punkt
ausserhalb derselben verbindet; die ebene Fläche ist damit vollständig bestimmt
und ihre Eigenschaften müssen sämmtlich aus ihrer Construction hervorgehen,
wenn die Elemente dieser Construction genau definirt sind. Das Axiom über
die Ebene sagt uns dagegen, dass jede andre Grade ausser den bereits betrach
teten, welche zwei Punkte mit ihr gemein hat, vollständig in ihr liegt. Dies
ist aber eine Eigenschaft, welche nach den vorhergehenden Betrachtungen aus
der Construction selbst abgeleitet werden muss. Ist dies nicht möglich, so
bedeutet dies, dass die Axiome über die Grade oder über das Paar von Graden,
welche sich schneiden, die Ebene in abstractem Sinn nicht ausreichend be
stimmen.
Wir sind zu dem Beiveis dieser Eigenschaft in dem EuclicU sehen System
durch die Nothwendigkeit veranlasst worden, die Eigenschaft für die Räume
von mehr als drei Dimensionen beweisen zu müssen, von welchen wir nur die
Construction haben und bei denen ivir die äussere Anschauung nicht zu Hülfe
nehmen können. ! )
1) Diese Bemerkung über die Unvollkommenheit des Axioms über die Ebene ist nicht
neu. In einem Brief an Bessel (Göttingen 27. 1. 1829) schreibt Gauss:
„Seltsam ist es aber, dass ausser der bekannten Lücke in Euclid's Geometrie, die
man bisher umsonst auszufüllen gesucht hat und nie ausfüllen wird, es noch einen andern
Mangel in derselben gibt, den meines Wissens Niemand bisher gerügt hat und dem abzu
helfen keineswegs leicht (obwohl möglich) ist. Dies ist die Definition des Planums als
einer Fläche, in der die irgend zwei Punkte verbindende gerade Linie ganz liegt. Diese
Definition, enthält mehr, als zur Bestimmung der Fläche nöthig ist und involvirt tacite ein
Theorem, welches erst bewiesen werden muss.“
Grassmann (a. a. 0. S. 32) erkennt an, dass der Geometrie eine wissenschaftliche Basis
fehlt, und stellt analoge Betrachtungen über das Axiom bezüglich der Ebene an. Auf S. 34
sagt er dann sehr richtig: „Wenn ein Grundsatz vermieden werden kann, ohne dass ein
neuer eingeführt zu werden braucht, so muss dies geschehen und wenn es eine gänzliche
Umgestaltung der ganzen Wissenschaft herbeiführen sollte, weil durch ein solches Ver
meiden die Wissenschaft nothwendig ihrem Wesen nach an Einfachheit gewinnt.“
Genocchi (Dei principi della meccanica e della geometria. Mem. della Societä italiana
dei XL. Bd. II. Serie III. 1869, S. 178) bemerkt, die Erzeugung der Ebene mittelst der
Graden, welche die Punkte einer Graden mit einem Punkt ausserhalb derselben verbinden,