632 Historisch-kritische Untersuchungen über die Principien der Geometrie.
Eine unparteiische und aufmerksame Kritik ist in der Mathematik wie
bei jeder andern wissenschaftlichen Speculation ein wirksames Instrument zur
Erforschung der Wahrheit, denn das Erkennen der Fehler erschwert ihre
Wiederholung und erleichtert ihre Vermeidung. Wir sind andrerseits voll
ständig von dem Werth überzeugt, welchen alle gewissenhaften Arbeiten über
dieses schwierige Thema haben, auch wenn sie nicht immer die nöthige Strenge
in den Schlüssen zeigen und in jeder Einzelheit den gewünschten Zweck erreichen,
da ja die Mathematik und speciell die Geometrie auch in den Principien voran
schreitet und sich allmählig vervollkommnet. Grelle sagt, dass das Feststellen
der Principien der Geometrie nicht weniger Schwierigkeiten bereitet, als die
Entwicklung der complicirtesten Theorien: „Diese sind in die Höhe gewendet,
jene in die Tiefe, und Höhe und Tiefe sind gleichermassen unbegrenzt und
dunkel.' 0 ) Gewiss ist, dass die Schwierigkeiten, auf welche man dabei stösst,
viel mehr Zeit und Beharrlichkeit in Anspruch nehmen als Untersuchungen
höherer Art, bei welchen eine neue und fruchtbare Idee schnell zu sehr wich
tigen Resultaten führen kann. Dagegen hat es wenig oder keinen Werth Ideen
über die Fundamente vorzubringen, wenn man nicht zeigt, dass sie thatsächlich
verwirklicht werden können. Auch ein altes Princip in eine neue Form zu
bringen, so dass gewisse Beziehungen desselben zu andern wichtigen Theorien
hervortreten, ist schon ein Fortschritt. Solche Arbeiten werden daher nicht nach
den Mängeln beurtheilt, an denen sie vielleicht leiden, als hauptsächlich nach
den Erfolgen und Verbesserungen, welche sie wirklich erreicht haben, und den
Ideen, agf welche sie sich stützen. Und da ein Autor Nichts veröffentlichen
sollte ohne die Ueberzeugung irgend einen Vortheil erlangt zu haben und es
sich bei diesen Argumenten um grossentheils bekannte Eigenschaften handelt,
so muss, wie uns scheint, der Autor seine Ueberzeugung vertreten, damit der
Leser seine Resultate besser beurtheilen kann, ohne jedoch die Verdienste
Andrer zu verkleinern.
Bei der Beurtheilung der Fehler muss man berücksichtigen, dass sie ver
schiedener Art und nicht immer gleich wichtig sind, dass es auch Fehler gibt,
an welchen nicht die Flüchtigkeit des Denkers, sondern der geschichtliche
Standpunkt der Wissenschaft die Schuld trägt und dass solche Irrthümer in
dem Sinn nützlich waren und noch sind, dass sie die Andern auf die Spur der
Wahrheit bringen. Gauss hat z. B. in Folge seiner Kritik einiger Beweise des
Postulats V EuclitVs die Ansicht vertreten, ein Beweis dieses Postulats sei
unmöglich.-) Selbstverständlich müssen besonders bei solchen Arbeiten Fehler
vermieden werden; man muss aber zwischen Fehler und Fehler unterscheiden.
Es lässt sich ferner nicht verkeimen, dass man bei diesen Forschungen von
Anfang an mehr auf die Fruchtbarkeit der neuen Ideen achtet und achten muss,
als darauf das Gebiet ihrer Gültigkeit genau festzustellen; dies zeigt im Uebrigen
die historische Entwicklung der Wissenschaft auf das Deutlichste. Es wäre mithin
1) Journal von Grelle Bd. 45. Zur Theorie der Ebene. Diese Abhandlung wurde au
der Berliner Academie im Jahre 1834 gelesen.
2) Gott. Gelehrte Anzeigen. 1816.