(}34 Historisch-kritische Untersuchungen über die Principien der Geometrie.
Nationalitätsgefühl beeinflussen zu lassen. Wenn man auch begreift, dass es
für eine angenehme Pflichterfüllung gilt die Verdienste der eigenen Landsleute
hervorzuheben, besonders wenn sie von den Fremden nicht anerkannt sind, so
darf dieses Gefühl doch der Wahrheit keinen Eintrag thun. Die Unparteilich
keit muss jedem andern Gefühl und jeder persönlichen Rücksicht voranstehen.
Die Kritik soll vornehm, heiter, gewissenhaft und wohlwollend sein, sie soll
den Irrthum nur im Literesse der Wissenschaft bekämpfen, den Verdiensten,
dem Werth und der Fruchtbarkeit der Ideen oder Erfolge Andrer Anerkennung
zollen. Eine solche Kritik verdient, auch wenn sie sich in der Auslegung oder
dem Urtheil irrt, Achtung und Ermuthigung; wer sie nicht vertragen kann,
zeigt, dass ihm der höhere Sinn abgeht und er mehr sich selbst als der
Wissenschaft zugethan ist.
Nach der ganzen Anlage dieser Abhandlung verbietet es sich von selbst
die vielen kleinen und grossen Bücher zu besprechen, welche sich mit den
geometrischen Axiomen vom philosophischen Standpunkt beschäftigen; auf ge
wisse mit leichtem Sinn und geringer oder keiner Kenntniss des Gegenstandes
abgegebene Urtheile, die sich manchmal von dem philosophischen Gebiet aus
in den Kreis der Mathematik vorwagen, antwortet unser Buch schon allein.
Wir verweilen auch nicht bei den mathematischen Werken, welche die geo
metrischen Axiome zu allgemein und unbestimmt behandeln, als dass man ihnen
grossen Werth in der Geschichte der wichtigen Frage beimessen könnte, wenn
auch die einen oder die andern oft richtige und scharfsinnige Bemerkungen
enthalten mögen und ihre Lectüre von Nutzen sein mag. Ebensowenig be
schäftigen wir uns hier besonders mit den Elementarbüchern der Geometrie —
von einigen besseren haben wir schon in der Vorrede und den Anmerkungen
zum Text gesprochen — oder mit den Arbeiten, welche die Principien der
geometrischen Methoden betreffen; dagegen haben wir mit solchen zu thun,
welche die Principien der Geometrie an sich allein und nicht Elementarfragen
und diese Principien nur nebenbei behandeln.
Wir halten im Folgenden uns nicht streng an eine vorbestimmte Ordnung,
sondern richten uns nach dem einzelnen Fall; nur achten wir mehr auf eine
Eintheilung der Arbeiten in Gruppen nach den in ihnen vorwiegenden Ideen
als auf eine chronologische Aufeinanderfolge.
Bis zu dem Ende des vorigen Jahrhunderts ist niemals, wie es scheint, die
Gültigkeit der Axiome Euclid's in Zweifel gezogen worden und man kann sagen,
dass niemals Jemand von den Ideen und der Methode des grossen Griechen bei
der Behandlung der Elemente abgewichen ist. Die Versuche das Postulat über
die Parallelen zu beweisen gehen auf entfernte Zeiten zurück. Geminus, Proclus,
Ptolomaeus, der Araber Nassaradin und Clavius gehören sicher zu den ersten,
die solche Versuche anstellten. 1 ) Es ist kaum zu glauben, dass man bis zum
1) M. Cantor: Vorlesungen über die Gesell, d. Math. S. 358; H. Hantel: Zur Gesell,
der Math. S. 272; Clavius: Euclidis Elementoruni, Frankfurt, 1054, I, S. 29—30. Man macht