638
Historisch-kritische Untersuchungen über die Principien der Geometrie.
bemerken unter andern die Arbeiten Bertrand's von Genf und Legendre's.*)
Der letztere glaubte in seinen Elements de geometrie, welche zuerst 1794 in
Paris gedruckt wurden, von der dritten bis zur achten Ausgabe seines Buches
die Theorie der Parallelen ohne irgend ein specielles Postulat auseinandergesetzt
zu haben. Als er jedoch bemerkte, dass sein Beweis nicht ohne Fehler war,
kehrte er in der neunten Ausgabe zu dem erwähnten Postulat zurück, in der
zwölften aber und sonst behauptete er wieder von Neuem, er habe mittelst
weiterer Betrachtungen den gewünschten Beweis geben können. 1 2 )
Die freilich ergebnislosen Bemühungen der Mathematiker besonders Le-
gendre’s das Euclid’sche Postulat zu beweisen müssen ohne Zweifel die Aufmerk
samkeit der Forscher auf dieses dornenvolle Argument gelenkt haben. Und in
der That war Garns der erste, welcher bei der Untersuchung einiger Beweise
dieses Postulats die Ansicht aussprach, es sei überhaupt nicht zu beweisen.
Er wiederholt diesen Gedanken auch in dem an Bessel gerichteten Brief vom
27. Januar 1829. Die Gestalt gewinnende Idee aber einer daraus folgenden Geo
metrie ohne das Postulat findet sich erst in den Briefen an Schumacher von 1831
bis 1846. 3 ) Aus dem an Bolyai 1799 geschriebenen Brief, von dem Schering be
richtet, geht nicht mit Sicherheit hervor, dass Gams sich damals mit der nicht
Euclid'sehen Geometrie beschäftigt hat. Bis zum Beweis des Gegentlieils können
wir daher nicht behaupten, dass sich Garns vor Lobatschewsky mit einer solchen
Geometrie beschäftigt hat um so mehr als soviel wir wissen, keine andre Schrift
des grossen Mathematikers nach seinem Tod über diesen Gegenstand veröffentlicht
worden ist. 4 ) Wir halten es daher für unsre Pflicht die Priorität in dieser Theorie
mit dem Postulat über die beiden Parallelen dem russischen Mathematiker zu
zuweisen, der diese Geometrie mit einer rein geometrischen Methode entwickelte,
dabei jedoch, wie schon gesagt, die Hypothese der unendlichgrossen Graden
wählte, aus welcher unter Ausschluss des Postulats Euclid’s über die Parallelen
hervorgeht, dass man durch einen Punkt zwei Parallelen zu einer gegebenen
1) Bertrand: Développement nouveau de la partie élém. des math. Genf, 1778.
Bd. IL 17—19.
2) Vorrede zur 12. Ausgabe. Réflexions sur différentes manières de démontrer la
théorie des paralleles. Mém. de l’Ac. Paris, 1833. Von den Elementen Legendre’s, sagt,
trotzdem sie nicht ohne Verdienst sind und neue wichtige Begriffe enthalten, Hoiiel
(a. a. O. S. 5): „Legendre durch das Beispiel seiner Landsleute fortgerissen hat die wahr
haft geometrischen Methoden der Alten nicht in ihrer vollen Reinheit zu bewahren gewusst
und hat sie dadurch von Grund aus geändert, dass er das arithmetische Verfahren dev
modernen Analysis mit ihnen vermengte.“ Man kann noch hinzufügen, dass die Beweise
nicht immer mit derselben Strenge wie bei Euclid geführt werden.
3) Siehe Schering: Gauss' Geburtstag nach hundertjähriger Wiederkehr, 1877. Gauss
zum Gedächtniss von Sartorius von Waltershausen, Leipzig 1850. V
4) Wir bemerken noch, dass Wolfgang Bolyai sehr befreundet mit Gauss war und
sein Sohn Johann in dem berühmten Appendix scientiam spatii absolute veram exkibens
trotzdem nichts über die Priorität von Gauss in dieser Frage sagte. Wie die Beweise des
Postulats über die Parallelen Gauss auf den Gedanken von der Unbeweisbarkeit des Postulats
gebracht haben (Gott. Gel. Anz. 1810), so hat dieser Gedanke sehr wahrscheinlich Loba-
tscheivshy und Bolyai dazu geführt, die Fundamente der Nicht-Euclid'schen Geometrie auf
zustellen. Ein Postulat kann unabhängig von andern, geometrisch aber durch andre nicht
zu ersetzen sein.