642 Historisch-kritische Untersuchungen über die Principien der Geometrie.
„Die Gesammtheit aller dieser Punkte bildet eine Linie, welche bei der Ro
tation um zwei ihrer Punkte unbeweglich bleibt. Diese Linie heisst grade Linie. 11
Auf diese Art und stets mittelst der Bewegung gibt JBolyai die Eigen
schaften, dass die Grade in sich selbst gleiten kann und dass zwei Grade zu
sammenfallen, wenn sie zwei Punkte gemein haben. Analog verfährt er bei
den Eigenschaften der Ebene.
Obwohl diese Theorie Bolyai’s, wie Hoüel bemerkt, dunkle Punkte auf
weist (und sie hat in der That so wie sie dargelegt ist viele Lücken), so haben
wir doch diesen Auszug gebracht, Aveil dasselbe Thema später von einigen
andern Autoren behandelt wird, welche die Arbeit JBolyai’s nicht gekannt haben.
Man sieht nicht selten bei diesen Forschungen, dass Autoren dieselben Ideen
wie andre entAvickeln, ohne die früheren Arbeiten zu kennen, ihre Fehler zu
verbessern und ihre Lücken auszufüllen; manchmal fügen sie noch neue Fehler
und neue Lücken hinzu.
Lobatschewshj erklärt in seiner Pangeometrie, er habe vorgezogen die Geo
metrie mit der Kugel und dem Kreis zu beginnen und definirt die Ebene genau
so Avie JBolyai und die Grade als geometrischen Ort der Durchschnitte zweier
Reihen gleicher concentrischer Kreise, Avelehe alle in einer Ebene liegen. Er
fügt jedoch nichts Weiteres hinzu und wir Avissen nicht, ob er in einer früheren
Arbeit seine Methode bekannt gegeben hat.
Wir werden in der Folge von dieser Richtung sprechen und bemerken
nur noch, dass die beiden genannten Autoren nicht von dem Begriff des Ab
standes, sondern des Punktepaares ausgehen.
Der erste, Avelcher uns eine gründliche Erörterung der Principien der
Geometrie gegeben hat, Avar JRiemann in seiner Abhandlung: „Ueber die Hypo
thesen, die der Geometrie zu Grunde liegen“, welche er bei seiner Habilitation
an der philosophischen Facultät der Universität zu Göttingen 1854 überreichte
und Avelclie nach seinem Tod 1867 veröffentlicht wurde. 1 ) Diese Abhandlung
hat nicht nur die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf die Maunifffaltigkeiten
von n Dimensionen und besonders auf diejenigen einer constanten Krümmung
gelenkt, in welchen die dem gewöhnlichen Raum entsprechende Mannigfaltig
keit als specieller Fall enthalten ist, sondern hat auch auf die Möglichkeit
eines andern Geometriesystems hingeAviesen. In diesem ist die Grade endlich,
d. h. man kann von einem Punkt keine Parallele zu einer gegebenen Graden
ziehen; dabei bleiben aber die übrigen Axiome JEuclid’s unverändert und setzt
man sich mit der thatsächlichen Erfahrung nicht in Widerspruch.
JRiemann ist in seiner Definition des Begriffs „Grösse“ dunkel. Er spricht von
„Anfeinanderlegen der zu vergleichenden Grössen“ und dass das Messen „ein Mittel
erfordert die eine Grösse als Massstab auf die andre fortzutragen 11 . Hier benutzt
er, da er keine andre Erklärung gibt, den Begriff der Bewegung starrer Körper
in rein abstracten Mannigfaltigkeiten. Er geht auch von der Idee des Stetigen
1) Abh. der Ivön. Gesellscli. d. Wissenseh. zu Göttingen. Bd. XIII, 1807. — B. Bie-
mann’s gesammelte Math. Werke; herausg. v. 11. Weher, Leipzig, 1879.