Seitdem die V eröffentlichung von Riemanrís Abhandlung über die Hypo
thesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, die Aufmerksamkeit der
Mathematiker wieder auf die Axiome der Geometrie speciell die Theorie der
Parallellinien gelenkt hat, ist das Interesse an der Frage nicht wieder erloschen.
Aus den letzten fünfundzwanzig Jahren liegt eine stattliche Iieihe von Arbeiten
vor, in denen von verschiedenen Gesichtspunkten aus die Fundamente der Geo
metrie erörtert und die unter gewissen Annahmen möglichen Systeme von geo
metrischen Sätzen aufgestellt sind. Man hat sich dabei nicht begnügt, die Frage
nach der wissenschaftlichen Stellung des elften Axioms des JEuclid kritisch zu
untersuchen, sondern hat auch seine Aufmerksamkeit dem fünften Axiom des
Archimedes zugewandt.
Die meisten Arbeiten über die Nicht-Euclid’sch.e Geometrie beschränken
sich, soweit sie rein synthetisch verfahren, auf die Lobatschewsky’sehe Geometrie
oder, wenn sie die andern möglichen Systeme auch in Betracht ziehen, leiten
sie nach wenigen synthetischen Erörterungen die Eigenschaften der Raumfiguren
durch Rechnung ab.
Das Werk des Professors Veronese, dessen Uebersetzung wir hier den deut
schen Mathematikern darbieten, ist wohl das erste, das streng synthetisch, ohne
Rechnung und in voller Allgemeinheit die Geometrie von den ersten Grund
lagen an aufbaut und es ist bis jetzt auch, so viel wir wissen, das einzige, in
dem das fünfte Axiom des Archimedes nicht durchgängig vorausgesetzt ist. In
den historisch-kritischen Untersuchungen des Anhangs wird zum erstenmal eine
Besprechung sämmtlicher Hauptarbeiten dieses Jahrhunderts über die Principien
der Geometrie geboten.
Da grade in Deutschland die Frage nach der Begründung der Geometrie
besonders lebhaft erörtert wurde und noch wird, so glauben wir, dass die
Uebersetzung des Veronese’sehen Buches, dessen Lectüre für einen Leser, der
die italienische Sprache nicht beherrscht, nicht ganz leicht ist, vielen deutschen
Mathematikern willkommen sein wird. Indem wir wegen des Zieles, das er
sich gesteckt und des Planes, den er verfolgt, auf Veronese’’s eigene Vorrede
verweisen, wollen wir nur bemerken, dass beim Leser keine besonderen Vor
kenntnisse vorausgesetzt werden, sondern nur angenommen wird, dass er mathe
matisch zu denken gelernt habe.
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