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L. Kiepert:
Auch im übrigen fiel das Examen glänzend aus, so daß Weier
straß schon im Herbst 1842 am Progymnasium in Deutschkrone als
Hilfslehrer und kurze Zeit darauf als ordentlicher Lehrer angestellt
wurde. Im Herbst 1848 erhielt er eine ordentliche Lehrerstelle am
katholischen Gymnasium in Braunsberg, wo er bis zum 1. Juli 1856
blieb. Weierstraß hatte also 14 Jahre hindurch in ganz elementaren
Fächern Unterricht zu erteilen, sogar im Schönschreiben und Turnen,
in Deutsch und Geographie.
Trotzdem setzte Weierstraß seine Tätigkeit als erfolgreicher
Forscher auf mathematischem Gebiete fort. In dem Jahresbericht des
Gymnasiums zu Braunsberg von 1848/49 veröffentlichte er die Ab
handlung:
„Beitrag zur Theorie der Abelschen Integrale “
Leider blieb aber diese Arbeit völlig unbeachtet, wie das ja mit
den Abhandlungen in Schulprogrammen häufig geht. Es folgte dann
im 47. Bande des Crelleschen Journals seine berühmte Abhandlung
über Abelsche Funktionen vom Jahre 1853, welche die Bewunderung,
ja das Erstaunen der mathematischen Welt hervorrief. Eine Deputation
der Königsberger philosophischen Fakultät mit Richelot an der Spitze
reiste nach Braunsberg und überreichte Weier straß das Diplom als
Doctor h. c. mit den Worten:
„Wir haben in Herrn Weier straß unsern Meister gefunden
Dies geschah, als Weierstraß bereits 40 Jahre alt war. Von da
ab fanden aber seine Leistungen volle Anerkennung. Er wurde am
1. Juli 1856 als Professor an das Kgl. Gewerbe-Institut in Berlin be
rufen und im Herbst desselben Jahres an die Universität Berlin, zu
nächst als außerordentlicher Professor. Erst im Frühjahr 1864 wurde
er zum ordentlichen Professor an der Universität ernannt, wodurch
seine Lehrtätigkeit am Gewerbe-Institut ihr Ende fand.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, ausführlich über die wissen
schaftlichen Arbeiten von Weierstraß und ihre hohe Bedeutung zu
sprechen. Ich verweise in dieser Beziehung auf die vorhin zitierte
Schrift von Mittag-Leffler. Hier will ich mich darauf beschränken,
über den Lehrer und den Menschen Weier straß meine persönlichen
Erlebnisse mitzuteilen.
Es ist zu begreifen, daß ein Genie, das die schwierigsten, kunst
vollsten Schlüsse auf mathematischem Gebiete selbst spielend ausführt,
glaubt, es müsse anderen ebenso leicht fallen. Es ist zu begreifen, daß
ein solches Genie sich nicht auf die Stufe stellen kann, auf welcher der
minder begabte Schüler steht. Erzählte doch bei der Feier des 70. Ge
burtstages von Weierstraß sein um 6 Jahre jüngerer Bruder in einer