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16. Decbr. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1882. Nr. 5o.
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ist aber in doppelter Beziehung eine schwierige Auf
gabe; denn einerseits führt die Fülle des vorhandenen
Materials leicht zu einer den Leser abschreckenden
Breite, während andererseits durch die getroffene Aus
wahl häufig wesentliche Lücken und Unvollständigkeit
entstehen.
Deshalb darf man dem hochverehrten Herrn Verf.
des vorliegenden Buches bestens gratulieren, dass es
ihm geglückt ist, aufserordentliche Reichhaltigkeit mit
gedrängter Kürze zu vereinigen. Allerdings ist vieles
darin wol nicht für den Anfänger geschrieben und nur
für solche leicht verständlich, die sich bereits mit ana
lytischer Geometrie beschäftigt haben, auch werden
Vorkenntnisse aus der Algebra und aus der Determi
nantentheorie vorausgesetzt. Die knappe Fassung hat
es aber möglich gemacht, dass auch die Sätze, welche
man der neueren synthetischen Geometrie verdankt, in
den Kreis der Betrachtungen gezogen und durch ana
lytische Geometrie elegant hergeleitet sind. Dagegen
ist von der Differentialrechnung nur an wenigen Stellen
Gebrauch gemacht, wodurch die Grenzen für den Inhalt
des Buches vorgeschrieben waren. Der Verf. beginnt
nemlich mit der Geometrie des Raumes von einer
Dimension, wobei das Wesentliche über die Lage von
Punkten in einer Geraden gesagt wird. Dann folgt die
Geometrie des Raumes von zwei Dimensionen, in der
zunächst die Begriffe der Projectivität, der Coordinateli
eines Punktes in der Ebene, der Collinearität und der
Reciprocität auseinandergesetzt sind. Daran scbliefsen
sich Erläuterungen und Aufgaben über geometrische
Oerter und über die Gleichungen von Linien. Dies
führt zur Erzeugung des Kreises, der Kegelschnitte und
einer ganzen Reihe von anderen interessanten Curven,
die teilweise sogar transcendent sind. Erst nachdem
einige Eigenschaften dieser Curven und Anwendungen
davon auf die graphische Lösung von cubischen und
biquadratischen Problemen besprochen sind, bringt der
Verf. die eingehende Untersuchung der Geraden und
der Linien zweiter Ordnung und schliefst diesen Ab
schnitt, indem er die gemeinsamen Eigenschaften und
Singularitäten der Linien nter Ordnung entwickelt.
Eine ähnliche Anordnung des Stoffes findet sich
in der analytischen Geometrie des Raumes von drei
Dimensionen. Auch hier werden zunächst die ver
schiedenen Coordinatensysteme, die Gleichungen von
Geraden und Ebenen, die Begriffe der Collineation und
Reciprocität definiert. Darauf folgt eine Besprechung
der Flächen und der unebenen Linien (Curven doppelter
Krümmung), wobei neben den Flächen zweiter Ord
nung auch sogleich die gemeinsamen Eigenschaften
der Flächen höherer Ordnung untersucht werden, wäh
rend die ausführliche Behandlung der Flächen zweiter
Ordnung den Schluss bildet. Der Herr Verf. legt auf
diese Anordnung Wert, und auch mit Recht: denn der
Lernende wird mit gröfserem Interesse an die er
schöpfende Untersuchung der Kegelschnitte und der
Flächen zweiter Ordnung herantreten, wenn er bereits
vorher durch die Bekanntschaft mit anderen geometri
schen Gebilden seinen Gesichtskreis erweitert hat.
Der Vorzug des Buches liegt aber wol hauptsäch
lich in den aufserordentlich zahlreichen historischen
Bemerkungen und Litteratur-Nachweisen, die von der
grofsen Belesenheit und den gründlichen Studien des
Herrn Verf. ein beredtes Zeugnis ablegen. Die geo
metrischen Arbeiten aller Zeiten sind gewissenhaft
berücksichtigt und bei den einzelnen Sätzen, Methoden,
Bezeichnungen u. s. w. hervorgehoben, von wem sie
herrühren. Dadurch ist das Buch ein wahrer Schatz für
geometrische Forschung geworden, denn der L.eser
findet darin auf die bequemste Weise die Quellen, aus
denen die angegebenen Resultate geschöpft sind.
Hannover. L. Kiepert.
Volkswirtschaft und Gewerbe
wissenschaft.
Wilhelm Friedensburg, Zur Arbeiterfrage. Eine volkswirt
schaftliche Studie. Breslau, Schottlaender, 1882. X u. 322 S.
gr. 8°. M. 5.
Verf. will die heutige Erwerbs- und Eigentums
ordnung erhalten und sucht die bei ihr stattfindende
Verteilung des Productionsertrages an die bei dem
Productionsprocess Beteiligten in Form des Unter
nehmerlohnes, der Grundrente, des Kapitalzinses und
des Arbeitslohnes socialistischen Angriffen gegenüber
als berechtigt nachzuweisen. Seine Rechtfertigungs
gründe setzen aber die heutige Erwerbs- und Eigen
tumsordnung als etwas Selbstverständliches, Naturge-
mäfses voraus, und da ist es denn natürlich leicht, ihre
Ausflüsse, d. h. den Unternehmerlohn und den Kapital
zins, zu verteidigen. Die Socialisten greifen diese auch
nicht innerhalb der bestehenden Erwerbs- und Eigen
tumsordnung an, sondern geben hier ihre Notwendigkeit
vollkommen zu, und sehen sich daher zu ihrer Beseiti
gung zu einer Negierung des Eigentums selbst ge
zwungen. — Um die Notwendigkeit oder Entbehrlich
keit des Privateigentums (vor allem an dem Produc-
tionsmittel) dreht sich demnach der Streit; wer dies
negiert macht sich seine Sache daher allzu leicht und
seine Argumentationen werden niemand überzeugen, der
nicht bereits überzeugt war. Von nicht gröfserem
Werte ist der positive Vorschlag des Verf. zur Beseiti
gung der vorhandenen Misstände. Da die bisherige
Verteilung des Productionsertrages gerecht ist, so
braucht nicht eine bessere Verteilung sondern es muss
eine gröfsere Production angestrebt werden, und
um diese zu erreichen soll nun nicht, wie bisher, nur
der Unternehmer, sondern auch der Arbeiter an der
Erzielung des höchstmöglichen Erträgnisses interessiert
werden. Zu diesem Zweck sollen sich Corporativ-
Associationen der Arbeiter bilden, durch welche der
Arbeiter nicht, wie bisher, durch den Arbeitslohn seines
Anrechts auf eine Quote des Gesammtproductes sich
zu entäufsern gezwungen wird, sondern die ihn in den
Stand setzen, sich zum Miteigentümer des Productes
der ganzen Gütererzeugung zu erheben und ihn so,
durch den Anteil an dem Ertrage, zu einer energischeren
Entfaltung seiner Arbeitskraft bewegen. Dieser Ge
danke, durch Arbeiterassociationen den Arbeiter zu
gleich zum Unternehmer zu machen, ist keineswegs
neu. Rein principielle Bedenken sind es auch nicht,
welche die Verwirklichung desselben bisher verhindert
haben, vielmehr liegt die Unmöglichkeit, auf diesem
Wege die socialen Zustände wesentlich zu bessern, in
den praktischen Schwierigkeiten, die die manigfachen
Versuche, welche mit der Durchführung dieser Idee,