Full text: Handbuch der Botanik (1. Abtheilung, 1. Theil, 2. Band)

  
150 System der Pflanzenphysiologie. 
behülter der Samen und Früchte dienen, in vielen Füllen im Gegentheil von 
unten nach oben wandern. Sehr allgemein tritt in den Pflanzen eine nach 
aufwärts und abwärts gerichtete Bewegung plastischer Stoffe gleichzeitig her- 
vor, und ein solches Verháltniss lüsst sich z. B. in klarer Weise bei der Ent- 
wicklung des Embryo der Samen auf Kosten der im Endosperm oder in den Coty- 
ledonen aufgespeicherten Reservestoffe verfolgen, denn gewisse Quantitüten 
plastischen Materials wandern aus den Reservestoffbehültern nach abwárts in die 
Wurzeln, wührend andere Mengen stickstofffreier und stickstoffhaltiger Substanzen 
in Folge einer nach aufwirts gerichteten Bewegung in die sich ausbildenden 
Stengeltheile eintreten. 
Die vorstehenden Auseinandersetzungen lassen keinen Zweifel darüber be- 
stehen, dass es mit dem heutigen Standpunkte der Pflanzenphysiologie nicht 
mehr verträglich ist, von einem in den Pflanzen sich ausschliesslich nach abwärts 
bewegenden Bildungssaft zu sprechen. Früher hat man allerdings häufig an einer 
derartigen Anschauung festgehalten, und noch DE CANDOLLE!) ist, wie wol be- 
hauptet werden darf, in der älteren Auffassung befangen. 
§ 70. Die Gewebeformen, in denen die Translocation plastischer 
Stoffe erfolgt. — Die ersten eingehenden experimentellen Untersuchungen 
über die in diesem Paragraphen zu behandelnden Fragen sind von HANSTEIN?) 
durchgeführt worden. Dieser Forscher benutzte zunächst die Zweige verschiedener 
dicotyler Pflanzen zu seinen Beobachtungen und brachte sogen. Ringelschnitte an 
denselben an, indem er das Rindengewebe, den Bast und das Cambium rings 
im Umfange am unteren Theile der Zweige an einer Stelle entfernte. Wenn bei 
derartigen Experimenten z. B. Weidenzweige oder überhaupt solche Zweige be- 
nutzt werden, deren Mark frei von Gefässbündeln oder Bastelementen ist, so 
bilden sich aus den vorhandenen Wurzelanlagen oberhalb der Ringelung viele, 
unterhalb derselben keine oder sehr wenige Wurzeln aus.?) Zu ganz anderen 
Resultaten führt der Versuch, wenn man mit solchen Pflanzen (Piper medium, 
Mirabilis Jalappa) experimentirt, in deren Mark Gefässbündel verlaufen, oder 
wenn man mit den Stämmen monocotyler Gewächse arbeitet. In diesen Fällen 
erfolgt nämlich auch unterhalb der Ringelung eine nicht unerhebliche Wurzel- 
bildung. Besonderes Interesse verdienen endlich die Beobachtungen an solchen 
Pflanzen, bei denen auf der Innenseite der Gefässbündel Weichbastelemente vor- 
handen sind, deren Mark selbst aber keine Gefässbündel führt. Derartiges ist 
z. B. bei Nerium Oleander, Vinca minor sowie Solanum Dulcamara der Fall, und 
nach erfolgter Ringelung bilden sich die Wurzeln bei diesen Gewächsen ebenfalls 
unterhalb der Ringelung aus. HaANSTEIN spricht sich nun auf Grund der Resul- 
tate seiner Untersuchungen dahin aus, dass die Weichbastelemente, mógen die- 
selben in den Pflanzen an diesen oder jenen Orten vorkommen, allein für die 
Translocation plastischer Stoffe von Bedeutung seien. Das Parenchym soll dagegen 
nach der Anschauung des genannten Beobachters keine Bedeutung für die 
Wanderung des Bildungsmaterials in den Gewáchsen besitzen. 
1) Vergl. DE CANDOLLE, Physiologie végétale 1832. Bd. 1. pag. 421. Vergl. auch die 
deutsche Uebersetzung des citirten Werkes v. RÖPER. Bd. I. pag. 419. 
?) Vergl. HANsTEIN, PRINGSHEIM'S Jahrbücher f. wissensch. Botanik. Bd. 2. 
3) Je lünger das sich unterhalb des Ringelschnitts befindende Stengelstück ist, um so 
kräftiger entwickeln sich die Wurzeln an demselben. 
    
   
    
   
  
   
   
   
  
   
   
  
  
   
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
   
  
  
   
   
  
  
   
   
  
  
   
    
   
   
   
   
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