Full text: Handbuch der Botanik (1. Abtheilung, 1. Theil, 2. Band)

  
System der Pflanzenphysiologie. 
Das Verhalten der Pflanzen niederen Temperaturen gegenüber ist ausser- 
ordentlich verschieden. Viele Gewächse (Moose, Flechten, aber auch höher or- 
ganisirte Pflanzen, wie Helleborus- Arten, Viscum album) ertragen die strengste Kälte 
wie es scheint ohne Nachtheil. Andere Gewächse (zumal tropische Pflanzen) 
sollen nach Harpy!) bereits bei niederen Temperaturen, die noch über dem 
Gefrierpunkte des Wassers liegen, zu Grunde gehen?), und wenn dies richtig ist, 
So mögen manche Gewächse ebenso in Folge des Gefrierens ihrer Säfte an sich 
ihre Lebensfähigkeit einbüssen. 
Von sehr grossem Interesse ist nun die Thatsache, dass viele Pflanzentheile 
durch Abkühlung auf Temperaturen unter o° an sich nicht getödtet werden, und 
dass die gefrorenen Zellen ebenso in Folge nachträglichen langsamen Auf- 
thauens nicht zu Grunde gehen, während schnelles Aufthauen sie dagegen 
vernichtet. Sacus?) hat z. B. Bláütter von Runkelrüben, Raps, Kohl etc. bei 
— 4—6"C. gefrieren lassen und dann in Luft von + 2—3° C. oder in Wasser von 
6—1:0* C. gebracht. Es zeigte sich, dass die Pflanzentheile zu Grunde gingen. 
Die erfrorenen, d. h. die durch Gefrieren und schnelles Aufthauen getódteten 
Untersuchungsobjecte, hatten ihren Turgor verloren, sie waren schlaff geworden 
und liessen den Zellsaft bei dem geringsten Druck austreten. Erfrorene Gewebe- 
massen werden durchscheinend, die Süfte verschiedener Zellregionen mischen sich 
mit einander, und dadurch erfolgt eine rasche Zersetzung der Bestandtheile der- 
selben. Erfrorene Pflanzentheile veründern ihre Farbe und vertrocknen schliess- 
lich. Als Sacns die gefrorenen Blätter in Wasser von o° sehr langsam aufthaute, 
gelang es ihm, dieselben am Leben zu erhalten. Ebenso wie die Blätter verhalten 
sich Kartoffelknollen und Rübenwurzeln. Die gefrorenen Knollen oder Wurzeln 
gehen in Folge langsamen Aufthauens nicht, wol aber nach schnellem Aufthauen 
zu Grunde. Experimentirt man mit rothen Rüben, so lässt sich bei der Aus- 
führung der Untersuchungen noch ein interessantes Phünomen beobachten. Ge- 
sunde Zellen rother Rüben geben nämlich an Wasser von gewöhnlicher Tempe- 
ratur, mit dem sie in Contact gerathen, kaum merkliche Farbstoffmengen ab. 
Erfrorene Zellen der Wurzeln lassen den Farbstoff hingegen in Berührung mit 
Wasser in Folge der Zerstörung des Hyaloplasma leicht fahren. 
Neben der Thatsache, dass viele Pflanzentheile nicht durch das Gefrieren 
an sich, sondern erst in Folge der Art und Weise des Aufthauens getödtet 
werden, ist der fernere Umstand besonders für uns von Interesse, dass die Kälte 
um so weniger nachtheilig auf die Pflanzenzellen einwirkt, je wasserärmer die- 
selben sind. So ist es bekannt, dass die wasserarmen Winterknospen unserer 
Bäume sehr bedeutende Kältegrade ohne Nachtheil ertragen. Ebenso sind luft- 
trockene Samen in hohem Grade widerstandsfähig niederen Temperaturen gegen- 
über. GÖPPERT*) setzte lufttrockene oder angequollene Samen sehr verschiedener 
Pflanzenspezies Temperaturen von — 25 bis — 40? C. aus. Die ersterea hatten nach 
Abschluss der Versuche ihre Keimfihigkeit nicht eingebiisst, wihrend die wasser- 
reicheren Untersuchungsobjecte sämmtlich zu Grunde gegangen waren. Zu ähn- 
P) Vergl. HARDY, Botan. Zeitung. 1856. pag. 202. 
?) Allerdings sollen nach H. DE VRIES niedere Temperaturen über o? an sich das Leben 
der Pflanzen niemals gefährden. Dennoch scheinen mir die Angaben HARDY’s noch nicht völlig 
widerlegt zu sein. 
2 Vergl. SACHs, Versuchsstationen. Bd. 2, pag. 177 und Handbuch der Experimentalphysio- 
logie der Pflanzen; pag. 59. 
^) Vergl. GórPERT, Wiürmeentwicklung. pag. 49. 
     
   
   
  
   
  
  
  
  
   
    
  
     
  
   
   
   
    
    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
   
   
   
    
    
   
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