Full text: Handbuch der Botanik (1. Abtheilung, 1. Theil, 3. Band, 2. Hälfte)

182 Die systematische und geographische Anordnung der Phanerogamen. 
deshalb dennoch die Windblüthler weder als in niederer Organisationstufe stehend 
betrachtet werden, noch darf man ihren Ursprung aus eben diesem einen Grunde 
der Windblüthigkeit allein schon auf die ältesten angiospermen Gruppen zurück- 
führen wollen, weil diese ja in der Kreide fast ausschliesslich als Windblüthler auf. 
traten und sich sehr wohl bis zur Gegenwart fortgepflanzt haben können. Es 
müssen dafür in solchen Fällen andere Rücksichten geltend werden, obwohl 
nicht gesagt werden soll, dass die Befruchtungsart gar nicht auch für Ent- 
scheidungen solcher Art in Frage kommen könnte. 
Die hauptsächlichste Rücksicht aber erfordert die Betrachtung der Blüthen- 
organe in dem Sinne der sich steigernden und zu complicirterer Funktion über- 
leitenden Metamorphose, wie es in dem systematischen Theile ausführlicher zu 
erörtern sein wird. 
Beziehungen zwischen Alter, Organisationshóhe und Ausbreitungs- 
fáhigkeit. — Wenn man die in allen Beziehungen hinsichtlich der Landforen 
bestehende Oberherrschaft der Blüthenpflanzen, und unter diesen wiederum die 
der Angiospermen in das Auge fasst, so scheint das Gesetz von A. Gaupry, 
welches dieser Schriftsteller beim Entwurf eines Bildes der Verkettungen der 
Thierwelt vom paläontologischen Gesichtspunkte aus aufstellte, und dem sich auch 
SAPORTA und MARION anschliessen, gerechtfertigt zu sein, dass die hôheren Wesen 
sich schneller verändern als die niederen; denn diesem abgeleiteten Gesetze ent- 
spricht es, dass die Angiospermen sich zu der grôssten Mannigfaltigkeit der Arten 
aufgeschwungen haben. Unter Vervollkommnung der Organisation wird dabei 
die Differenzirung in den wichtigsten Organen verbunden mit Vereinigung 
der einheitlichem Zwecke dienenden Theile und Reduction der letzteren auf 
die geringste nothwendige Zahl!) verstanden, so dass die seit lange verschieden 
ausgerüsteten neben einander bestehenden Reihen von Organismen mit sehr 
verschiedenen Kräften und sehr verschiedenen Aussichten auf Erfolg im Streben 
nach grösserer Ausbreitung sich immer enger begrenzte Functionen erwerben 
und sie immer ausschliesslicher und sicherer mit Hülfe ihrer complicirter ge- 
wordenen Organe ansüben. Die dabei mógliche Mannigfaltigkeit ist thatsüchlich 
nur bei den Angiospermen sowohl hinsichtlich ihrer Lebensweise als auch hin- 
sichtlich ihrer Sexualititserscheinungen vorhanden; sowohl das Leben des einzelnen 
Individuums als auch die Ziele zur Entstehung der Nachkommenschaft spielen 
sich in den verschiedensten Rahmen ab. 
Um deswillen werden ja auch Mono- und Dikotylen als hóchste Pflanzen- 
stufen bezeichnet; es würde aber irrig sein, wenn man annehmen wollte, die 
älteren und nicht zu hóheren Klassen fortentwickelten Typen müssten an sich 
eine geringere Ausbreitungsfühigkeit auf der Erde besitzen. Es kónnen im Gegen- 
theil die Organismen von sehr altem Typus und niederem Klassenrange, wenn 
sie nur befáhigt waren, den jüngeren Umgestaltungen der Erde zu folgen und 
ihre eigene Fortentwicklung darnach einzurichten, von Alters her bis auf die 
Jetztzeit dieselbe oder eine noch gesteigerte Rolle in der Gesammtvegetation 
der Erde spielen, wenn sie auch ihr individuelles Leben und die Bildung der 
  
7! NAGELIL Mechan.-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Capitel IX. — »Die 
gróssere Zahl der Organe ist also nicht das Merkmal einer hóheren Stufe, 
meinen das Gegentheil davon, und die quantitative Verschiedenheit, welche in einer Menge von 
Abstufungen besteht, ist unvollkommener als der Zustand, in welchem nach Unterdrückung aller 
Uebergz 
inge bloss die wenigen ausgeprägten Bildungen übrig bleiben und unvermittelt neben ein- 
ander liegen.« (pag. 519.) 
sondern im Allge- 
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