Renten-, Lebens- und Aussteuer- Versicherung
bearbeitet von
Dr. Richard Heger
Gymnasiallehrer u. a. o. Hon.-Professor am Kgl. Polytechnikum zu Dresden.
8 1. Lebenswahrscheinlichkeit.
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I. Unter allen unserer Beobachtung zugänglichen Ereignissen sehen wir
mit Recht diejenigen als von einer unübersehbaren gróssten Mannigfaltigkeit von
Ursachen bedingt an, die das Schicksal der Menschen ausmachen, insbesondere
die, welche vom menschlichen Willen direkt abhängen. Wir begeben uns daher
jedes Urtheils über unser eigenes Schicksal und über die Zukunft unserer Mit-
menschen, und suchen das aus diesem Verzicht fliessende peinvolle Gefühl der
Unsicherheit zu überwinden.
Wenn nun auch die Zukunft des Einzelnen sich unserem Urtheile entzieht,
so hat sich doch ergeben, dass bei hinlänglich grossen Bevólkerungsgruppen in
mehrfachen Beziehungen Regelmiüssigkeiten vorhanden sind, die einen ziemlich
sicheren Schluss in die nächste oder selbst in die fernere Zukunft gestatten.
Bei einer einzelnen Familie ist z. B. die Anzahl der Todesfälle innerhalb
bestimmter Zeitabschnitte scheinbar ganz regellos; bei einer Gemeinde von
einigen Tausend Einwohnern ist diese Zahl schon von Jahr zu Jahr nahezu die-
selbe, so dass gewisse, von dieser Zahl abhüngende Einrichtungen mit Sicherheit
vorher getroffen werden kónnen; in einer grósseren Stadt von mehr als hundert-
tausend Einwohnern ist bereits die Zahl der wóchentlichen Todesfile nahezu
constant, oder doch insofern gleichmiássig, dass auf dieselben Kalenderwochen
mehrerer auf einander folgender Jahre dieselbe Anzahl von Sterbefüllen kommt.
Bei grósseren Bevólkerungsgruppen (Provinzen, Reichen), zeigen sich nicht bloss
die Todesfälle selbst ihrer Zahl nach unveründerlich, sondern es sind auch die
verschiedenen häufiger vorkommenden Todesursachen immer in nahezu demselben
Verhältnisse an den 'Todesfüllen betheiligt; ebenso bleibt bei der Zahl der
jährlichen "Todesfille der Procentsatz derer, die ein bestimmtes Alter erreicht
haben, wesentlich unverändert.
Auch bei den Ereignissen, die direkt vom Willen abhängig sind, zeigt sich
eine unverkennbare Gleichmässigkeit. So kamen im Königreiche Preussen*) in
den Jahren 1821—1875 jährlich auf das Tausend der Bevölkerung durchschnittlich
17,79 Eheschliessungen; von dieser Durchschnittszahl weichen die fünfzigjährigen
*) Preussische Statistik. (Amtliches Quellenwerk). Herausgegeben in zwanglosen
Heften vom Kgl. statistischen Bureau in Berlin. XLVIIL A. 1879. pag. 135.
SCHLOEMILCH, Handbuch der Mathematik. Bd. II.
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