Die Wechselbeziehungen zwischen den Blumen und den
ihre Kreuzung vermittelnden Insekten.
Von
Dr. Hermann Müller,
Oberlehrer an der Realschule erster Ordnung zu Lippstadt.
Einleitung.
[ie die Thier- und Pflanzenkunde iiberhaupt, denen ja bis heute der sich
selbst widersprechende Name der »beschreibenden Naturwissenschaften«
anklebt, ja sogar noch mehr als die meisten ibrer übrigen Zweige, bestanden bis
vor wenigen Jahren auch die Blumen- und Insekten-Kunde der Hauptsache nach
in Beschreibungen und systematischen Zusammenstellunger gegebener Formen.
Zwar hatten ein Réaumur, ein RoEsEL bereits im vorigen Jahrhunderte mit liebe-
vollster Hingabe sich in die unerschópflich mannigfaltigen Lebenserscheinungen
vertieft, welche die Insektenwelt darbietet, zwar hatte, noch vor Schluss des
vorigen Jahrhunderts CHRIST. CONR. SPRENGEL [11] *) mit glücklichstem Erfolge die
Wechselbeziehungen zwischen den Blumen und den sie besuchenden Insekten
zum Gegenstande seiner Beobachtungen und seines Nachdenkens gemacht. Aber
bei den Nachfolgern LixNÉ's, die vielleicht nicht mit Unrecht eine móglichst
sichere Orientirung in dem erdrückenden Formenreichthum als vorldufig wichtigstes
Ziel ihrer Fachwissenschaften ins Auge fassten, traten biologische Forschungen
mehr und mehr in den Hintergrund, und von den zahllosen Männern der ver-
schiedensten Berufsklassen, welche Insekten und Blumen ihre ganze Liebhaberei
zuwandten, ihre gesammte verfügbare Zeit widmeten, waren es immer nur ver-
einzelte Ausnahmen, denen nicht das Zusammenbringen oder Beschreiben einer
möglichst grossen Zahl verschiedener Arten als unverrückbares Ziel ıhres rast-
losen Strebens vorgeschwebt hätte. Der Inhalt unserer entomologischen Zeitschriften
und unserer zahlreichen Floren bis in die letzten Decennien, ja bis in die letzten
Jahre hinein gibt davon hinreichend Zeugniss. Auch die Schulen haben sich
dieser herrschenden Strómung nicht entziehen kónnen, und wo überhaupt Zoolo-
gie und Botanik als Unterrichtsgegenstünde in denselben Eingang gefunden haben,
da ist es mit nur wenigen Ausnahmen ebenfalls Beschreibung und systematische
Anordnung gegebener Formen gewesen, denen man die überwiegende Zeit zuge-
wendet, denen man also auch für die geistige Ausbildung der Knaben eine
hervorragende Wichtigkeit beigelegt hat.
Seit fast zwei Decennien ist nun durch das DARwiN'sche Werk über die Ent-
stehung der Arten [2] der Bann gebrochen, welcher bei Betrachtung der Er-
scheinungen der lebenden Natur die Geister gefangen hielt, gebrochen durch den
*) Die in [] eingeschlossenen Ziffern verweisen auf die am Schlusse der Abhandlung zu-
sammengestellten Bemerkungen.
ScHenx, Handbuch der Botanik,