Einheitliche Körper. Thermische Volumänderung in der Nähe des Schmelzpunktes. 609
Durch Erwärmen eines festen Körpers wird die mittlere kinetische Energie
seiner Molekeln erhöht, sie überwiegt schliesslich die gegenseitige Anziehung, und
die Verflüssigung beginnt.
Durch Abkühlung einer krystallisirbaren Flüssigkeit in Berührung mit einem
Krystall desselben Kórpers wird die mittlere kinetische Energie der Flüssigkeits-
molekeln verringert. DWejenigen mit einer geringeren kinetischen Energie, als der
Schmelztemperatur entspricht, werden beim Aufprallen auf die Krystalloberfláche
durch deren Anziehung festgehalten; dadurch wird die mittlere kinetische
Energie der übrigbleibenden Flüssigkeitsmolekeln grösser, die Temperatur also
höher werden, wenn keine weitere Wärme von aussen entzogen wird, wie es bei
der Berührung einer überkalteten Flüssigkeit mit ihrem Krystall geschieht.
Es ist ersichtlich, dass die Krystalloberfläche stets als ein Temperatur-
regulator wirken muss, der die Schmelztemperatur herzustellen strebt.
Kühlt sich eine Flüssigkeit ohne Berührung mit dem ihr zugehörigen Krystall
ab, so ist zur Bildung eines Krystalls nothwendig, dass sich Molekeln begegnen,
deren kinetische Energie unterhalb der der Schmelztemperatur entsprechenden
liegt; je niedriger die Temperatur der Flüssigkeit unterhalb des Schmelzpunkts,
um so grösser ist auch die Anzahl solcher Molekeln, um so wahrscheinlicher
auch ihr Zusammentreffen: Das Erstarren überkalteter Flüssigkeiten tritt um so
leichter ein, je stärker die Unterkühlung.
Die Wahrscheinlichkeit eines solchen für die Bildung des Krystalls günstigen
Zusammenpralls wird auch vom Volumen der Flüssigkeit abhängen; je geringer
dieses, um so ungünstiger für die Krystallbildung. In der That lassen sich
kleine Tropfen und in Capillaren eingeschlossene Flüssigkeiten weit leichter und
stärker unterkühlen, als grosse Mengen.
Unterkühlte Wassertropfen kommen häufig in der Natur vor, man schreibt
ihnen die Bildung von Glatteis zu. Auch mittelst der Hygrometrie hat sich nach
EKHOLMS!) Untersuchungen die Existenz solcher nachweisen lassen, indem
nämlich häufig bei Temperaturen unter 0° C. ein eisbekleidetes Thermometer
hoher zeigt, als ein trockenes.
Die thermische Volumänderung der Körper in der Nähe des Schmelz-
punkts zeigt gegenüber der bei anderen Temperaturen manches besondere,
Namentlich die der festen Körper, die bei anderen Temperaturen sehr annähernd
linear erfolgt, nimmt nach dem Schmelzpunkt hin gewöhnlich beschleunigt zu,
wie die folgenden Diagramme für Wachs, Schwefel, Stearinsäure illustriren. Es
scheint allerdings in Anbetracht der Erfahrungen PETTERSSONS (s. W. u.) und
von BATTELLI und PALAZZO an organischen Verbindungen”), dass dies vielleicht
grösstentheils die Schuld von Verunreinigungen ist, auf deren Abwesenheit frühere
Forscher mit geringerer Sorgfalt geachtet haben mögen. In der That zeigen die
Diagramme der relativ leicht rein zu erhaltenden Körper die Beschleunigung
des Zuwachses in bedeutend geringerem Maasse, dagegen um so deutlicher den
plötzlichen Sprung des specifischen Volumens fester und flüssiger Körper, der
allen Körpern gemeinsam ist.
Die thermische Volumänderung der Flüssigkeiten zeigt in der Nähe des
Schmelzpunkts (Gefrierpunkts) keinerlei Anomalien.
1) Undersókningar i hygrometri. Akad. Afhandl. Upsala 1888, pag. 58. sqq.
2) BATTELLI u. PALAZZO, R. Ac. d. Lincei r, pag. 1. 1885; WIED. Beibl. 9, pag. 730.
WINKELMANN, Physik, II 2. 39