KEPLER: Wechselseitige Anziehung der Himmelskärper (Gravitas). 95
Körpern stärker als bei weiter von einander entfernten Körpern; die Annäherung
ist eine wechselseitige, beide Kórper' bewegen sich gegen einander, und zwar
sind die von den Kórpern dabei zurückgelegten Wege umgekehrt proportional
ihren Massen. Allein KEPLER war nicht im Stande, aus dieser anziehenden Kraft
auch das Entfernen der Kórper von der Sonne nach dem Durchgange derselben
durch das Perihel zu erklären, und nahm zu diesem Zwecke eine die Planeten
um die Sonne bewegende, beständig im Weltraume parallel wirkende Krait an,
und zwar nach derjenigen Richtung, in welcher sich der Planet im Perihel be-
wegt [in der Richtung der Pfeile (Fig. 33)]. Durch diese wird in demjenigen
Theile der Bahn, in welchem sich das Perihel befindet, die Geschwindigkeit
grösser, in der anderen Bahnhälfte kleiner, während die Entfernungen der Planeten
von der Sonne bei seiner Bewegung vom Aphel bis zum Perihel beständig ver-
kleinert, in der zweiten Hälfte wieder vergrössert werden. Der Effect seiner an-
ziehenden Kräfte, der »Gravitas«, ist aber bei KEPLER nur für ruhende Körper der
universellen Attraction NEwTon’s vergleichbar. Durch die Rotation des Central-
körpers tritt in KEPLER’s »Gravitas« eine wesentliche Modifikation ein, es tritt
eine Tangentialkraft (die aber nicht als Beharrungsvermögen aufzufassen ist) auf,
Andrerseits vermischt sich mit diesen Ansichten KEPLER’s Annahme einer intelli-
gibeln Welt, einer Sensitivität der Natur, welche ebenfalls zu motorischen
Kräften Anlass giebt. Diese Annahme bildet überdies den ganzen Inhalt von
KEPLER’s Astrologie. Seit den Zeiten der Araber war die Astrologie oder Stern-
deutekunst (s. diese) zu einer förmlichen Wissenschaft ausgebildet worden, durch
welche man nach bestimmten Regeln die Geschicke der Welt und der Menschen
vorausbestimmen zu können glaubte. Aber schon lange vor KEPLER trat ein
mschwung der Meinung auf, und schon mehr als 100 Jahre vorher hatte z. B.
der aufgeklärte und gelehrte Graf JoHANN Prcus vou MIRANDULA (1463— 1494)
die Lehren der Astrologie als eitel und unverstándig bezeichnet, aber noch zu
KrPLER's Zeiten — und noch lange später — war dieser Aberglaube nicht er-
loschen. Auch KEPIER wurde von abergläubischen Fürsten über künftige Ge-
schicke befragt, und musste »Kalender schreiben«, d. h. Prognosen, und dass er,
der berühmte Astronom, auch Astrolog war, wird ihm von manchen als Schwäche,
von anderen als Täuschung ausgelegt, und wieder andere sprechen von seiner
»Doppelnatur«. Dass er einen gewissen Hang zu mystischen Spekulationen hatte,
ist nicht zu leugnen, aber seine Astrologie, und man muss diese gewiss von
der Astrologie überhaupt unterscheiden, sowie er sich auch stets dagegen ver-
wahrte zu den Astrologen gezählt zu werden, erstreckte sich nur auf den Glauben
an einen geheimnissvollen Einfluss der Constellationen (Oppositionen, Conjunctionen
Quadraturen u. s. w.) sowie der Tóne auf das Gemüth des Menschen. KEPLER's
Meinung lässt sich dahin aussprechen, dass er den Constellationen einen gewisser
Einfluss auf die Welt und auf die Menschen zuschrieb, welchem der Mensch
jedoch (ebenso wie dem Einflusse der Musik) seinen Willen und seine Energie
entgegensetzen kann. Von einer Vorhersagung von Ereignissen kann demnach
keine Rede sein, und in allen seinen sogenannten Prognosen zieht KEPLER mehr
oder weniger — je nach dem Stand der Fragenden — die Frage ins Lächerliche,
und benutzt die Gelegenheit, um ungestraft Sittenpredigten zu halten und Wahr-
heiten zu sagen, zu welchem Zwecke mancher auch heute nicht ungern den
Astrologen spielen móchte.
Die durch KEPLER aufgestellten Gesetze der Planetenbewegungen fanden
nicht allgemeine Anerkennung. Die Schuld mag theils darin gelegen sein, dass
das CopERNICANIsche System, auf welches sie sich stützten, selbst in jener Zeit