838 Kausalgesetz und Willensfreiheit
Gebiet angestellten Spekulationen um eine weitere zu ver-
mehren. Was mich dazu veranlaßt hat, zu diesem Thema
hier vor Ihnen das Wort zu nehmen, ist ein rein praktischer
Beweggrund, ist der Hinblick auf eine ebenso augenfällige
wie unbefriedigende Tatsache.
Nach alledem, was bis jetzt über unser Problem in Jahr-
hunderten gedacht und geschrieben worden ist, sollte man
annehmen, daß wir heute seiner Lösung, wenn auch nicht
vollkommen mächtig geworden, so doch wenigstens insofern
einigermaßen nahegekommen sind, als über gewisse Grund-
lagen derselben bei allen Denkern einige Übereinstimmung
erzielt worden ist. Was wir in Wirklichkeit gewahren, ist
eher das Gegenteil. Seit langem ist über die Bedeutung des
Kausalgesetzes in der Natur- und Geisteswelt, über Sinn-
liches und Übersinnliches, über Willensfreiheit und Willens-
gebundenheit nicht so heftig gestritten worden, wie in unseren
Tagen, und man kann sagen, daß über diese Dinge in weiten
Kreisen gegenwärtig eine höchst unerfreuliche Unklarheit
besteht. Fast hat es den Anschein, als ob die denkende
Menschheit bezüglich dieser Fragen in zwei getrennte Lager
gespalten ist. Den einen ist es in erster Linie um das Er-
kennen zu tun; sie sehen in einer strengen Kausalität, auch
für alle geistigen Vorgänge, ein unentbehrliches Postulat der
wissenschaftlichen Forschung und tragen daher kein Be-
denken, als Preis für ein vollständiges Verständnis dessen,
was die Welt im Innersten zusammenhält, auch die eigene
Willensfreiheit zum Opfer zu bringen. Die andern, mehr
dem Handeln zugewandten Naturen, deren Selbstgefühl sich
aufbäumt gegen die Zumutung, durch eine Unterordnung
unter die Herrschaft starrer Gesetze zu einem blutlosen
Automaten herabgewürdigt zu werden, und die daher die
Willensfreiheit als das hóchste Gut des denkenden Menschen
in Anspruch nehmen, móchten dem Kausalgesetz wenigstens
auf dem Gebiet des hóheren Seelenlebens die Gültigkeit am
liebsten ganz absprechen, zum mindesten aber so stark als
irgend móglich beschneiden. Zwischen beiden Lagern bewegt
sich eine grófere Anzahl vorsichtig Abwáàgender, die durch
ein unbestimmtes, aber starkes Gefühl, daB beide Parteien
in gewissem Sinne recht haben móchten, daran verhindert