124 Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft
halben mit Maß und Zahl und trägt daher mit vollem Recht ihren
stolzen Namen; denn die Gesetze der Logik und der Mathematik
müssen wir ohne Zweifel als zuverlässig betrachten. Aber auch die
schärfste Logik und die genaueste mathematische Rechnung können
kein einziges fruchtbares Ergebnis zeitigen, wenn es an einer sicher
zutreffenden Voraussetzung fehlt. Aus nichts 1äßt sich nichts folgern.
Kein Wort hat in der gebildeten Welt mehr Mißverständnis und
Verwirrung hervorgerufen als das von der voraussetzungslosen Wissen-
schaft. Es war seinerzeit von Theodor Mommsen geprägt wor-
den, um hervorzuheben, daß die wissenschaftliche F orschung sich frei
halten müsse von vorgefaßten Meinungen; aber es konnte und sollte
nicht bedeuten, daß die wissenschaftliche F orschung überhaupt keiner
Voraussetzung bedürfe. An irgendeiner Stelle muß sie anknüpfen,
und die große Frage, welches diese Stelle ist, hat von jeher die tief-
sten Denker aller Zeiten und Völker beschäftigt, von Thales bis
Hegel, sie hat alle Kräfte menschlicher Phantasie und Logik in
Bewegung gesetzt, aber es hat sich immer wieder gezeigt, daß eine
Antwort in endgiiltig abschlieBendem Sinn nicht zu finden ist. Wohl
den eindrucksvollsten Beweis fiir dieses negative Resultat bildet die
Tatsache, daß es bis heute nicht gelungen ist, eine Weltanschauung
ausfindig zu machen, deren Inhalt, wenigstens in großen Zügen, von
allen urteilsfähigen Geistern gleichmäßig anerkannt wird. Daraus
können wir vernünftigerweise nur den einen: Schluß ziehen, daß es
überhaupt unmöglich ist, die exakte Wissenschaft von vornherein
auf eine allgemeine Grundlage endgültig abschließenden Inhalts zu
stellen.
So stoßen wir gleich am Anfang unserer Frage nach dem Sinn der
exakten Wissenschaft auf ein Hindernis, welches von jedem, der sich
ernstlich um die Gewinnung von Erkenntnis bemüht, als eine Ent-
täuschung empfunden werden muß, und das in der Tat schon viele
kritisch veranlagte Denker in das Lager der Skeptiker getrieben hat.
Und was nicht weniger zu bedauern ist: es gibt vielleicht ebenso
viele oder noch mehr entgegengesetzt veranlagte Menschenkinder, die
aus Besorgnis, der von ihnen als unerträglich empfundenen Skepsis
zu verfallen, ihre Zuflucht nehmen zu einem jener Propheten, die zu
allen Zeiten, die heutige nicht ausgenommen, mit einer allerneuesten
Heilsbotschaft auftreten und die oft mit erstaunlicher Schnelligkeit
eine Anzahl begeisterter Jünger um sich scharen, bis sie, wenn ihre
Zeit abgelaufen ist, wieder von der Bildfläche verschwinden und in
das allgemeine Meer der Vergessenheit zurücksinken.
Gibt es einen Ausweg aus diesem verhängnisvollen Dilemma? Und
wo ist er zu finden? Dies ist die erste Frage, mit der wir uns be-
schäftigen müssen. Ich werde versuchen, zu zeigen, daß sie sehr wohl
eine positive Beantwortung zuläßt und daß wir dadurch zu einem