12 Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung
Nach dem Prinzip der Relativität ist es durchaus unmöglich, an
unserem Sonnensystem eine gemeinsame konstante Geschwindigkeit
aller Bestandteile desselben durch Messungen innerhalb des Systems
nachzuweisen. Eine solche Geschwindigkeit, und wäre sie auch noch
so groß, dürfte also in keinerlei Weise durch Wirkungen innerhalb
des Systems zur Geltung kommen. Dem Astronomen ist dieser Satz
ohne weiteres geläufig, er soll aber auch für den Physiker gelten.
Nun weiß jeder Gebildete, daß, wenn er an einem Himmelskörper,
z. B. an der Sonne, irgendeinen besonderen Vorgang beobachtet, das
Ereignis auf der Sonne nicht in demselben Augenblick stattfindet, in
welchem es auf der Erde wahrgenommen wird, sondern daß zwischen
dem Ereignis und der Beobachtung desselben eine gewisse Zeit ver-
streicht: die Zeit, welche das Licht gebraucht, um von der Sonne auf
die Erde zu gelangen. Nimmt man an, daß Sonne und Erde beide
ruhen — von der Bewegung der Erde um die Sonne können wir hier
ganz absehen —, so beträgt diese Zeit etwa 8 Minuten. Wenn aber
Sonne und Erde sich mit gemeinschaftlicher Geschwindigkeit be-
wegen, etwa in der Richtung von der Erde zur Sonne, so daß die
Erde sich gegen die Sonne hin, die Sonne sich aber mit der nämlichen
Geschwindigkeit von der Erde fortbewegt, dann ist diese Zeit kürzer.
Denn die Lichtwelle, welche als Bote die Kunde des Ereignisses von
der Sonne zur Erde bringt, durchläuft, nachdem sie die Sonne ver-
lassen, unabhängig von der Bewegung der Sonne mit Lichtgeschwin-
digkeit den kosmischen Raum, und die Erde kommt dem Boten ent-
gegen, sie trifft ihn also früher, als wenn sie seine Ankunft in Ruhe
abwartet. Umgekehrt: wenn die Erde sich von der Sonne fortbewegt,
die Sonne ihr in konstantem Abstand nachfolgt, wird die Zeit zwi-
schen Ereignis und Beobachtung länger.
Fragt man also: Welche Zeit verstreicht denn nun „in Wirklich-
keit“ zwischen dem Ereignis auf der Sonne und der Beobachtung auf
der Erde? so ist diese Frage ganz gleichbedeutend mit der: Welches
ist denn die „wirkliche“ Geschwindigkeit von Sonne und Erde? Und
da der letzteren Frage nach dem Relativitätsprinzip in keinerlei
Weise ein physikalischer Sinn zugeschrieben werden kann, so ist dies
folgerichtig auch bei der ersteren Frage der Fall, oder mit anderen
Worten: Eine Zeitangabe hat in der Physik erst dann einen be-
' stimmten Sinn, wenn der Geschwindigkeitszustand des Beobachters,
für den sie gelten soll, in Rücksicht gezogen wird.
Diese Folgerung, nach welcher einer Zeitgrófie ebenso wie einer
Geschwindigkeit nur eine relative Bedeutung zukommt, nach welcher
bei zwei voneinander unabhängigen Ereignissen an verschiedenen
Orten die Begriffe „früher“, „später“ sich für zwei verschiedene Be-
obachter geradezu umkehren können, klingt für das gewöhnliche An-
schauungsvermögen im ersten Augenblick ganz ungeheuerlich, ja