20 Das Prinzip der kleinsten Wirkung
Energie, welches ebenfalls die gesamte Physik beherrscht und sicher-
lich den Vorteil größerer Anschaulichkeit voraus hat. Daher dürfte
es sich empfehlen, zunächst die Stellung dieser beiden Prinzipien zu-
einander hier mit einigen Worten zu beleuchten.
Das Prinzip der Erhaltung der Energie läßt sich aus dem Prinzip
der kleinsten Wirkung ableiten, es ist also in ihm mitenthalten, wäh-
rend das Umgekehrte nicht zutrifft. Daher ist das Energieprinzip das
speziellere, das Prinzip der kleinsten Wirkung das umfassendere
Gesetz. Nehmen wir, um dies an einem einfachen Beispiel zu erläu-
tern, die Bewegung eines freien, keinerlei Kräften unterworfenen
materiellen Punktes. Nach dem Energieprinzip bewegt sich ein sol-
cher Punkt mit konstanter Geschwindigkeit, aber über die Richtung
der Geschwindigkeit sagt das Prinzip der Erhaltung der Energie
nicht das mindeste aus, weil die kinetische Energie gar nicht von der
Richtung abhängt. Die Bahn des Punktes könnte z. B. ebensogut eine
geradlinige wie eine kreisförmige sein. Das Prinzip der kleinsten
Wirkung dagegen verlangt weiter, wie wir unten ausführlicher be-
sprechen: werden, daß die Bahn des Punktes eine geradlinige ist.
Nun könnte man in dem vorliegenden einfachen Fall den Inhalt
des Energieprinzips noch durch gewisse einfache Annahmen zu er-
gänzen suchen, wie z. B. die, daß bei einem frei beweglichen Punkt
nicht nur die gesamte kinetische Energie, sondern auch der auf eine
bestimmte räumliche Richtung entfallende Teilbetrag der kinetischen
Energie konstant bleibt; indessen eine solche Ergänzung wäre, dem
Energieprinzip an sich fremd und läßt sich auch schwer auf all-
gemeinere Fälle übertragen. So z. B. wird man für ein sphärisches
Pendel (schwerer Massenpunkt auf fester Kugelfläche) aus dem
Energieprinzip nur die Folgerung herleiten können, daß die kinetische
Energie des Pendels bei der Aufwärtsbewegung in bestimmter Weise
abnimmt, bei der Abwärtsbewegung zunimmt, aber die Bahnkurve
läßt sich aus dieser Bedingung noch nicht eindeutig bestimmen, wäh-
rend dagegen das Prinzip der kleinsten Wirkung eine jede auf die
Bewegung bezügliche Frage vollständig beantwortet.
Der Grund für die verschiedene Tragweite der beiden Prinzipien
liegt darin, daß das Prinzip der Erhaltung der Energie, auf einen be-
stimmten Fall angewendet, nur eine einzige Gleichung liefert, wäh-
rend man, um eine Bewegung vollstándig zu kennen, ebensoviel Glei-
chungen braucht, als unabhängige Koordinaten vorhanden sind, also
für die Bewegung eines freien Punktes drei, für die Bewegung eines
sphärischen Pendels zwei Gleichungen. Das Prinzip der kleinsten
Wirkung aber liefert in jedem Falle gerade ebensoviel Gleichungen,
als unabhängige Koordinaten vorhanden sind, und zwar vermag es
diese Leistung, mehrere Gleichungen in einem einzigen Satz zu-
samménzufassen, deshalb zu vollbringen, weil es, im Gegensatz zum