32 Verhältnis der Theorien zueinander
fen, daß die Wissenschaft ihrem Ziele um so näher ist, je mehr die
Anzahl der in ihr enthaltenen Theorien zusammenschrumpft. Die Ge-
schichte der Physik bietet mannigfache lehrreiche Beispiele für diesen
Anpassungs- und Verschmelzungsprozef. In der gegenwärtigen kur-
zen Skizze soll der geschichtlichen Entwicklung nur soweit als nötig
gedacht werden und im übrigen der Hauptsache nach nur von dem
gegenwärtigen Zustand der physikalischen Theorien die Rede sein.
Man kann jetzt in der Physik noch drei verschiedenartige Theorien
unterscheiden: die Mechanik, einschließlich Elastizitätslehre, Hy-
drodynamik, Akustik, ferner die Elektrodynamik, einschließlich
Magnetismus und Optik, und endlich die Thermodyn amik. Von
diesen.drei Theorien hat bisher noch jede eine gewisse Selbstündig-
keit bewahrt, wenn auch die Zahl ihrer gegenseitigen Berührungs-
punkte, in welchen sie sich teilweise ergänzen, teilweise aber auch
bis zu einem gewissen Grade widerstreiten, schon heute sehr groß
ist und, dank den schnellen Fortschritten der experimentellen For-
schung, beständig anwächst.
Die älteste und am frühesten zur Entwicklung gekommene physi-
kalische Theorie ist die Mechanik, welche daher ursprünglich die
alleinige Herrschaft in der Physik beanspruchte und nach dem Urteil
mancher Physiker diesen Anspruch auch heute noch mit Recht be-
hauptet. Durch Galilei und Newton begründet, durch Euler und
Lagrange in die abschließende Form gebracht, bietet sie ein Bild,
welches an Abrundung und Vollendung nichts zu wünschen übrig-
làfit und mit dem einer mathematischen Theorie ebenbürtig wett-
eifern kann. Aber gerade in diesem Charakter der fertigen Abge-
schlossenheit, welcher der klassischen Mechanik eigen ist, liegt auch
die Unmóglichkeit, aus sich selber heraus weiter zu wachsen und sich
so fortzuentwickeln, wie es die allgemeine Aufgabe der Physik ver-
langt, die ja auffer den Bewegungsvorgängen noch eine große Anzahl
anderer Erscheinungen zu bewältigen hat. In der Tat mußte der An-
stoß zu einer Weiterbildung der Mechanik von außen kommen, und
er kam von der elektrodynamischen Theorie. Es ist von eigen-
tümlichem Interesse, zu sehen, wie diese Theorie, anfangs in gewisser
Abhängigkeit von der älteren und reiferen Mechanik, sich allmählich
von ihr loslöste, selbständige Bahnen einschlug und schließlich so
weit erstarkte, daß sie nunmehr ihrerseits einen umwälzenden Einfluß
auf die klassische Mechanik auszuüben vermochte.
Wenn nach dem Gesagten die Entwicklung der Elektrodynamik
überall unter dem Einfluß der Mechanik stand, so hat sie sich doch
in ganz verschiedener Weise auf dem Kontinent vollzogen als jen-
seits des Kanals. In Deutschland wurde ihr die Richtung von Gauß
vorgezeichnet, der als Mathematiker und Astronom die elektrischen
Wirkungen mit dem Newtonschen Gravitationsgesetz in Vergleich