Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

     
   
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
54 Die Physik im Kampf um die Weltanschauung 
  
fast ganz gleich sind. Die eine Zahl ist die Quadratwurzel aus 2, die 
andere Zahl ist der zwôlfziffrige Dezimalbruch 1,41 421 356 237. Die 
erste Zahl ist nur um wenige Billiontel größer als die zweite. Daher 
können die beiden Zahlen bei allen numerischen Rechnungen in der 
Physik wie in der Astronomie als völlig identisch behandelt werden. 
Sobald man aber die Reihe der Zahlen nicht nach ihrer Größe, son- 
dern nach ihrer Herkunft ordnet, klafft zwischen den beiden Zahlen 
ein himmelweiter Unterschied. Denn der Dezimalbruch ist eine ratio- 
nale Zahl, er läßt sich ausdrücken durch das Verhältnis zweier ganzer 
Zahlen, während die Quadratwurzel irrational ist und jene Eigen- 
schaft nicht besitzt. 
Stehen sich nun die beiden genannten Zahlen nahe oder stehen 
sie sich nicht nahe? Ein Streit über die so gestellte Frage hätte un- 
gefähr ebensoviel Sinn wie der Streit zwischen zwei Personen, die 
einander gegenüberstehen, über die Frage, welche Seite die rechte 
und welche die linke ist. 
Ich habe dieses einfache Beispiel deshalb angeführt, weil ich der 
Überzeugung bin, daß eine beträchtliche Anzahl wissenschaftlicher 
Kontroversen, und gerade solcher, die mit besonderer Lebhaftigkeit 
ausgefochten wurden, im Grunde darauf hinauslaufen, daß die beiden 
Gegner, oft ohne das deutlich auszusprechen, bei der Anordnung 
ihrer Gedankengänge von vornherein ein verschiedenes Einteilungs- 
prinzip benützten, und daf) jedweder Art von Einteilung stets eine 
gewisse Dosis Willkür und damit eine gewisse Einseitigkeit an- 
haftet. 
Noch stärker als in der Mathematik wirkt sich die Bedeutung der 
Wahl des Ordnungsprinzips in jeder Naturwissenschaft aus. Man 
denke nur an die systematische Botanik. Schon im Interesse der un- 
entbehrlichen Nomenklatur ist die Einteilung aller Pflanzen nach 
Arten, Gattungen, Familien usw. notwendig, und je nach der Wahl 
des Einteilungsprinzips ergaben sich verschiedene Systeme, die sich 
im Lauf der Entwicklung der botanischen Wissenschaft gelegentlich 
bitter befehdet haben, von denen aber keines als das allein berech- 
tigte zu betrachten ist, da ein jedes an einer gewissen Einseitigkeit 
leidet. Denn auch das heute allgemein benutzte natürliche System der 
Pflanzen, obwohl den früheren künstlichen Systemen weit überlegen, 
ist nicht ein in allen Teilen eindeutig bestimmtes, endgültiges, son- 
dern unterliegt bis zu einem gewissen Grade gewissen Schwankungen, 
die einer verschiedenartigen Einstellung der mafigebenden Forscher 
zu der Frage des zweckmüfhigsten Einteilungsprinzips entsprechen. 
Am auffälligsten und bedeutsamsten aber tritt einerseits die Not- 
wendigkeit, andererseits die Willkür einer ordnenden Betrachtung 
bei den Geisteswissenschaften in Erscheinung, vor allem bei der Ge- 
schichte. Mag man die Geschichte nach Lingsschnitten oder nach 
  
  
	        
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