64
Die Physik im Kampf um die Weltanschauung
abgeben kann? Offenbar bleibt nichts übrig als die allerdings sehr
naheliegende radikale Annahme, daß die elementaren Begriffe der
klassischen Physik in der Atomphysik nicht mehr ausreichen.
Die klassische Physik ist ja aufgebaut auf der Voraussetzung, daß
die physikalische Gesetzmäßigkeit sich am vollständigsten offenbart
im unendlich Kleinen. Denn nach ihr ist der Ablauf des physikali-
schen Geschehens an irgendeiner Stelle der Welt vollständig be-
stimmt durch den Zustand an der betreffenden Stelle und in ihrer
unmittelbaren Nachbarschaft. Demgemäß besitzen alle physikalischen
Zustandsgrößen: Lage, Geschwindigkeit, elektrische und magnetische
Feldstärke usw. einen rein lokalen Charakter, und die zwischen ihnen
geltenden Gesetze werden vollständig dargestellt durch raumzeitliche
Differentialgleichungen zwischen diesen Größen. Damit kommt man
aber offenbar in der Atomphysik nicht aus; also müssen die obigen
Begriffe ergänzt bzw. verallgemeinert werden. Aber in welcher Rich-
tung? Eine gewisse Andeutung scheint mir in der neuerdings immer
deutlicher zutage tretenden Erkenntnis zu liegen, daß die raumzeit-
lichen Differentialgleichungen, auch die der Wellenmechanik, für
sich allein noch nicht den vollen Inhalt der für die Vorgänge in einem
physikalischen Gebilde gültigen Gesetzlichkeit erschöpfen, sondern
daß dazu immer noch die Berücksichtigung auch der Randbedingun-
gen für das betrachtete Gebilde gehört. Der Rand aber ist immer
von endlicher Ausdehnung, sein unmittelbares Hereinspielen in den
Kausalzusammenhang bedeutet also ein neuartiges, der klassischen
Physik fremdes Element der kausalen Betrachtung.
Ob und wie weit man auf diesem Wege einmal weiterkommen
wird, muß die zukünftige Forschung lehren. Wie dem immerhin sein
mag, und welche Ergebnisse dereinst einmal ans Tageslicht kommen
werden, eins läßt sich auf alle Fälle mit voller Sicherheit behaupten:
von einer restlosen Erfassung der realen Welt wird ebensowenig
jemals die Rede-sein können wie von einer Erhebung der mensch-
lichen Intelligenz bis in die Sphäre des idealen Geistes. Das sind
und bleiben eben Abstraktionen, die begriffsmäßig außerhalb der
Wirklichkeit liegen. Wohl aber hindert nichts an der Annahme, daß
wir uns dem unerreichbaren Ziele fortdauernd und unbegrenzt an-
nähern können, und dieser Aufgabe zu dienen, in-der einmal als aus-
sichtsreich erkannten Richtung dauernd vorwärts zu kommen, ist
gerade der Sinn der unablässig tätigen, sich immer aufs neue korri-
gierenden und verfeinernden wissenschaftlichen Arbeit. Daß es sich
dabei wirklich um ein Fortschreiten, nicht etwa nur um ein zielloses
Hin- und Herpendeln handelt, wird dadurch bewiesen, daß wir von
jeder neu gewonnenen Erkenntnisstufe aus alle vorherigen Stufen
vollständig überschauen können, während der Blick auf die vor uns
liegenden noch verhüllt ist, ähnlich wie ein zu neuen Höhen empor-