Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

       
    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
    
Vom Wesen der Willensfreiheit 83 
wissenschaftlichen Standpunkt aus über die Bedeutung und den In- 
R halt der Ethik sagen läßt. Denn wenn die Ethik auch nicht in der 
| Wissenschaft wurzelt, so läßt sie sich doch auch nicht vollständig 
à | von ihr loslösen und darf sich auf keinen Fall mit ihr in Widerspruch 
. | setzen. So gibt es vieles, was die Ethik mit der Wissenschaft ge- 
> meinsam hat, und auch wieder vieles, was sie voneinander trennt. 
Während es nur eine einzige, allen Kulturvölkern gemeinsame 
Wissenschaft gibt, woran auch die Tatsache nichts ändert, daß eine 
, | jede Wissenschaft auf nationalem Boden erwächst, sind im Laufe 
| der Jahrhunderte und Jahrtausende zahlreiche verschiedene Systeme 
der Ethik aufgestellt worden, die oft miteinander in scharfen Wett- 
bewerb getreten sind. Ja, selbst innerhalb eines nach Ort und Zeit 
genau abgegrenzten Kulturkreises kämpfen verschiedene ethische 
Theorien miteinander. Ich brauche nur an den Gegensatz zwischen 
bürgerlicher und politischer Moral zu erinnern. Es ist eben viel 
| leichter, zwischen „wahr‘ und „falsch‘“ zu unterscheiden, als zwi- 
| schen „wertvoll“ und „wertlos“. 
Welches ist denn nun aber das entscheidende Kennzeichen für 
den Wert einer Ethik? —' Auf diese Frage kann es nach meiner 
Meinung nur eine einzige Antwort geben. Diejenige Ethik ist die 
wertvollste, welche sich im praktischen Leben auf die Dauer am 
besten bewährt; ebenso wie in der Wissenschaft immer diejenige 
Theorie den Vorzug verdient, welche der Erfahrung am besten an- 
| gepaßt ist. Von dieser Wahrheit durchdrungen haben die großen 
J | Ethiker aller Zeiten es als ihre wichtigste Aufgabe empfunden, ihrer 
| Lehre zur praktischen Betätigung in der Welt zu verhelfen, wobei 
| sie vor allem selber mit dem eigenen Beispiel vorangingen; und ge- 
| rade die Allergrófiten unter ihnen, von Sokrates bis hinauf zu Jesus, 
haben nicht gezaudert, diesem hóchsten Ziel ihr eigenes Leben zum 
; Opfer zu bringen. Ja, man darf sagen, daß dieses aufrechte Eintreten 
. für ihre Lehre ein wesentliches Merkmal ihrer Größe ausmacht. 
> Blicken wir auf die Gegenwart, so gewahren wir ein anderes Bild. 
Wie klein und armselig wirken gegeniiber jenen großen Persénlich- 
| keiten manche der modernen Ethiker, welche mit allen Künsten ihrer 
; Logik und Dialektik stolze Gebäude errichten und sie gegen jeden 
| Angriff scharfsinnig zu verteidigen wissen, die aber, wie es scheint, 
gar nicht daran denken, ihre ethischen Forderungen auf ihre eigene 
| . Person anzuwenden, ja sogar die Aufforderung, solches zu tun, als 
eine ungehórige Zumutung mit überheblicher Geste ablehnen. Diese 
klugen Gelehrten scheinen nicht zu ahnen, daß sie mit einer solchen 
Stellungnahme sich gerade den einzigen Weg verbauen, der ihnen 
die Möglichkeit bieten könnte, ihrer Ethik allgemeinere Anerkennung 
zu verschaffen. Was würde man von einem Physiker oder Chemiker 
sagen, der eine groß angelegte, mathematisch tadellose Theorie aus- 
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