Full text: Vorträge und Erinnerungen

  
Verhältnis der Theorien zueinander. 
(Aus der „Kultur der Gegenwart“, 1915.) 
Die Entwicklung einer jeden Wissenschaft vollzieht sich bekannt- 
lich nicht systematisch von einem einzigen Punkte aus, nach einheit- 
lich vorbedachtem Plane, sondern sie setzt aus praktischen Gründen, 
entsprechend der Vielseitigkeit der von ihr umfafsten Probleme, 
mehr oder weniger gleichzeitig an verschiedenen Punkten an und 
wird, je nach der Zahl und der Eigenart der an ihr arbeitenden 
Forscher, an den verschiedenen Stellen in verschiedener Weise und 
in verschiedenem Tempo gefördert. So entstehen häufig mehrere 
Theorien nebeneinander, die zunächst sich wesentlich unabhängig 
voneinander entwickeln und erst später, wenn sie sich weiter aus- 
breiten und vervollkommnen, in gegenseitige Fühlung geraten und 
sich zu beeinflussen beginnen, und zwar je nach den Umständen ent- 
weder im Bunde oder im Kampfe miteinander. Hier zeigt sich nun 
ein charakteristischer Unterschied zwischen den mathematischen und 
den Erfahrungswissenschaften. Bei den ersteren sind zwei verschie- 
dene Theorien, falls sie überhaupt Berechtigung besitzen, niemals im 
Widerspruch miteinander; man kann daher in der Mathematik nicht 
von einem Gegensatz der Theorien, sondern höchstens von einem 
Gegensatz der Methoden reden. So ist es z. B. von vornherein ausge- 
schlossen, daß eine algebraische Theorie einer geometrischen Theorie 
widerspricht, wenn sich auch Algebra und Geometrie zunächst ganz 
unabhängig voneinander entwickelt haben. In der Physik als einer 
Erfahrungswissenschaft dagegen ist es häufig vorgekommen und 
kommt auch jetzt noch vor, daß zwei Theorien, die es zu einer ge- 
wissen Selbständigkeit gebracht haben, bei ihrer weiteren Ausbrei- 
tung aufeinander stoßen und sich gegenseitig modifizieren müssen, 
um miteinander verträglich zu bleiben. In dieser gegenseitigen An- 
passung der verschiedenen Theorien liegt der Hauptkeim ihrer Be- 
fruchtung und Fortentwicklung zu einer höheren Einheit. Denn das 
Hauptziel einer jeden Wissenschaft ist und bleibt die Verschmelzung 
sämtlicher in ihr groß gewordenen Theorien zu einer einzigen, in 
welcher alle Probleme der Wissenschaft ihren eindeutigen Platz und 
ihre eindeutige Lösung finden. Daher wird man auch annehmen dür- 
fen, daß die Wissenschaft ihrem Ziele um so näher ist, je mehr die 
Anzahl der in ihr enthaltenen Theorien zusammenschrumpft. Die Ge- 
schichte der Physik bietet mannigfache lehrreiche Beispiele für diesen 
Anpassungs- und Verschmelzungsprozeß. In der gegenwärtigen kur-
	        
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