Das Weltbild der neuen Physik.
(Vortrag, gehalten am 18. Februar 1929 im Physikalischen Institut der Uni-
versität Leiden.)
I.
Meine hochverehrten Damen und Herren! Es sind in diesem Win-
ter zwanzig Jahre geworden, daß ich die Ehre und die Freude hatte,
hier in Leiden über die Einheit des physikalischen Weltbildes zu
sprechen. Ich war damals einer Einladung gefolgt, welche mir die
Naturwissenschaftliche Fakultát des Studentenkorps der Universität
übermittelt hatte; sie wurde wirksam unterstützt durch ein Schreiben
meines Kollegen Hendrik Antoon Lorentz, der mir in
seinem gastfreien Hause eine freundliche Aufnahme bereitete und
mich dabei zum ersten Male den Zauber seiner Persónlichkeit emp-
finden lief. Das machte mir meinen damaligen Besuch in Leiden zu
einem der großen Ereignisse meines Lebens und stimmte mich zu
einem Dankesgefühl, das ich seitdem als einen unverlierbaren Schatz
treulich bewahre.
Wenn es mir nun heute durch die besondere Liebenswürdigkeit
meiner Kollegen wiederum vergónnt ist, über das námliche Thema
vor Ihnen zu reden, so kann ich mich einer tiefen Empfindung der
Wehmut nicht erwehren, die mich bei der Erinnerung an jene Zeit
befállt. Es fehlt in diesem Kreise der allverehrte Meister, es fehlt
Kamerlingh Onnes, es fehlen noch manche andere, die damals
hier zugegen waren. Aber die Wissenschaft macht nicht halt bei ein-
zelnen Persönlichkeiten; auch der tätigste und erfolgreichste Forscher
muß schließlich einmal die von ihm begonnene Arbeit den Jüngeren
zur Weiterführung übergeben, und jeder unter diesen hat die Pflicht,
im Rahmen der ihm verliehenen Kräfte an diesem Werk mitzu-
arbeiten.
So möchte auch ich heute den Versuch wagen, die Entwicklung des
physikalischen Weltbildes seit jener Zeit zu schildern, wenn ich mir
auch deutlich bewußt bin, daß meine Darstellung noch weit weniger
Anspruch auf Vollständigkeit und Abrundung erheben kann als da-
mals vor zwanzig Jahren. Aber ich darf mich wohl einigermaßen mit
dem Gedanken trösten, daß die Aufgabe seitdem ungleich schwie-
riger geworden ist. Denn es sind inzwischen Probleme aufgetaucht,
die tiefer in unser ganzes physikalisches Denken eingreifen, als man
es vielleicht jemals für möglich hielt. Deshalb scheint es mir geboten,
zu Beginn meiner Darlegungen im Interesse der Deutlichkeit etwas