Full text: Vorträge und Erinnerungen

  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
Wissenschaft und Glaube. 
(Weihnachtsartikel vom Jähre 1930.) 
Weihnachten ist das Fest der Kinderfreude und der werktätigen 
Nächstenliebe, aber zugleich auch ein Fest der ernsten Besinnlich- 
keit. Denn der herannahende Jahresschluß mahnt einen jeden, der 
nicht gänzlich gedankenlos in den Tag hineinlebt, zu einem rück- 
schauenden Überblick über den Inhalt des verflossenen Jahres oder, 
wie dieses Mal, des vollendeten Jahrzehnts. Schier unendlich ist die 
Fülle der Erlebnisse, die wir im Laufe eines Jahres empfangen, tag- 
täglich stürmen ja, besonders nach den unerhörten Fortschritten der 
Verkehrs- und Verständigungsmittel, neue Eindriicke aus der Nahe 
und aus der Ferne auf uns ein. Freilich sind dieselben oït ebenso 
schnell wie sie kommen wieder vergessen, manchmal ist schon am 
nächsten Tage keine Spur mehr von ihnen übrig. Und das ist gut so. 
Denn sonst würde der Mensch von heute unter der Zahl und dem 
Gewicht der auf ihm lastenden verschiedenartigen Eindrücke einfach 
ersticken. Aber auf der anderen Seite tritt gegenüber diesem be- 
ständigen Wechsel der Erinnerungsbilder für jeden, der nicht als 
Eintagsfliege durch sein Dasein gehen will, um so stärker die Sehn- 
sucht hervor nach etwas Bleibendem, nach einem dauernden geistigen 
Besitz, der einen festen Halt gewährt in dem bunten Wirrwarr der 
Anforderungen des täglichen Lebens. Sie äußert sich, besonders bei 
der heranreifenden Jugend, in einem förmlichen Hunger nach einer 
möglichst umfassenden Weltanschauung und entladet sich in tasten- 
den Versuchen nach den verschiedensten Richtungen, um an irgend- 
einer Stelle für den dürstenden Geist Labung und Frieden zu finden. 
Die Kirche, welche in erster Linie dazu berufen ist, solche Bedürf- 
nisse zu stillen, vermag heute mit ihren Ansprüchen auf gläubige 
Hingabe zweifelnde Gemüter oft nicht mehr recht zu befriedigen. 
Daher greifen diese dann häufig zu mehr oder weniger bedenklichen 
Ersatzmitteln und werfen sich mit Eifer irgendeinem der zahlreichen, 
mit neuen sicheren Heilsbotschaften auftretenden Propheten in die 
Arme. Es ist erstaunlich, wie viele Leute gerade auch aus gebildeten 
Kreisen auf solche Weise in den Bann einer dieser neuen Religionen 
geraten, die in allen Schattierungen schillern, von der verworrensten 
Mystik bis hin zum krassesten Aberglauben. 
Der naheliegende Gedanke, es einmal mit einer Weltanschauung 
auf wissenschaftlicher Grundlage zu versuchen, wird von solchen 
Leuten in der Regel mit der Begründung abgelehnt, daf? die wissen-
	        
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