Scheinprobleme der Wissenschaft
(Vortrag, gehalten zuerst am 17. Juli 1946 im Physikalischen Institut
der Universität Göttingen)
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Welt steckt voller Probleme. Wo wir auch hinsehen, überall
tut sich irgendein Problem auf, im häuslichen Leben wie im Beruf.
in der Wirtschaft wie in der Technik, in der Kunst wie in der Wissen-
schaft. Und manche Probleme haben etwas Hartnäckiges an sich:
sie lassen uns nicht los, und die quälenden Gedanken an sie können
sich unter Umständen in einem solchen Grade steigern, daß sie uns
den ganzen Tag verfolgen und sogar nachts den Schlaf rauben. Wenn
uns dann zufällig einmal die Lösung eines Problems gelingt, so
empfinden wir das als eine Art Befreiung und freuen uns über die
Bereicherung unseres Wissens. Ganz anders ist es aber, und in hohem
Maße ärgerlich, wenn wir nach langem Abmühen die Entdeckung
machen, daß das Problem gar keiner Lösung fähig ist, weil es ent-
weder keine einwandfreie Methode zu seiner Bearbeitung gibt, oder
weil es bei Lichte besehen überhaupt keinen Sinn hat, daß es sich
also um ein Scheinproblem handelt, und daß wir alle darauf ver-
wendete Denkarbeit für ein Nichts geopfert haben. Derartige Schein-
probleme gibt es mancherlei, und nach meiner Meinung weit mehr
als man gemeiniglich annimmt, auch in der Wissenschaft. Solchen un-
liebsamen Erfahrungen zu entgehen, gibt es kein besseres Mittel, als
sich in jedem Falle von vornherein klarzumachen, ob ein Problem
wirklich echt, d. h. sinnvoll ist, und ob demnach eine Lösung tatsäch-
lich erwartet werden darf. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt liegt
mir heute daran, Ihnen, meine Damen und Herren, eine Reihe von
Problemen vorzuführen und sie mit Ihnen darauf hin zu prüfen, ob
es vielleicht nur Scheinprobleme sind. Vielleicht, daß ich damit einem
oder dem anderen von Ihnen einen Dienst erweisen kann. Die Aus-
wahl der Probleme erfolgt nicht nach einem systematischen Gesichts-
punkt, noch weniger beansprucht sie nach irgendeiner Richtung Voll-
ständigkeit. Meist sind die Probleme dem Gebiet der Wissenschaft
entnommen, weil hier die Verhältnisse sich am deutlichsten übersehen
lassen. Das wird mich aber nicht hindern, in Fällen, wo ich bei Ihnen
Interesse voraussetzen zu dürfen glaube, auch auf andere Gebiete
überzugreifen.