Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen
Naturanschauung.
(Vortrag, gehalten am 23. September 1910 auf der 82. Versammlung
Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg i. Pr.)
Von allen Stätten der regelmäßigen Tagungen unserer Gesellschaft
1äßt sich wohl kaum eine nennen, die so unmittelbar dazu einladet,
einen Blick auf die neuere Entwicklung der physikalischen Theorien
zu werfen, wie unser diesjähriger Versammlungsort. Ich denke da-
bei nicht nur an den großen Königsberger Philosophen, der mit
genialer Kühnheit sogar die Uranfänge unseres Kosmos physika-
lischen Gesetzen zu unterwerfen suchte; ich denke auch an den Be-
gründer der theoretischen Physik in Deutschland, Franz Neu-
mann, dessen Schule der physikalischen Wissenschaft eine Reihe
ihrer hervorragendsten Forscher beschert hat; ich denke an den Ver-
künder des Prinzips der Erhaltung der Energie, Hermann Helm-
holtz, der hier vor 56 Jahren vor den Mitgliedern der Physikalisch-
Ökonomischen Gesellschaft die damals ganz neuen Begriffe der poten-
tiellen und der kinetischen Energie. („Spannkraft‘“ und „lebendige
Kraft“) an dem Bild eines durch Wasserkraft gehobenen und dann
herabsausenden Hammers erläuterte.
Seit jener Zeit haben sich, wie jedermann bekannt ist, in der Phy-
sik ungeahnte Wandlungen vollzogen. Wäre Helmholtz heute
unter uns versetzt, er würde zweifellos über gar vieles, was er von
physikalischen Dingen hörte, erstaunt den Kopf schütteln. In erster
Linie sind es die großartigen Fortschritte der experimentellen Tech-
nik, welche den Umschwung herbeigeführt haben. Die von ihr er-
rungenen Erfolge kamen in mancher Beziehung so unerwartet, daß
man heutzutage selbst Probleme für lösbar zu halten geneigt ist, an
deren Bewältigung vor wenig Jahrzehnten noch kein Mensch gedacht
hätte, und daß man prinzipiell überhaupt kaum etwas für technisch
absolut unmöglich ansieht. Aber auch den Theoretikern hat sich ein
gutes Stück des bei den Praktikern herangebildeten Wagemutes mit-
geteilt, sie gehen jetzt mit einer für frühere Zeiten unerhórten
Kühnheit ans Werk, kein physikalischer Satz ist gegenwärtig vor An-
zweiflungen sicher, alle und jede physikalische Wahrheit gilt als dis-
kutabel. Es sieht manchmal fast so aus, als würe in der theoretischen
Phvsik die Zeit des Chaos wieder im Anzuge.
Aber je verwirrender die Fülle der neuen Tatsachen, je bunter die
Mannigfaltigkeit der neuen Ideen auf uns eindringt, um so gebiete-