Full text: Die Kunst der Römer (1,2)

  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
99. Silberbecher aus Boscoreale. Paris 
Idee zu verstehen, als die bildhaft verkörperte Idee der römischen Herrschaft. 
Krônend hàlt die Gestalt des bewohnten Erdkreises, der Oikumene, einen Lorbeer- 
kranz über das Haupt des Augustus. Begeistert blickt Okeanus zu ihm auf. Und 
vertraulich lehnt sich Tellus, die fruchtbare Erde, umspielt von Kindern, an den 
Thron des Augustus. Der Adler Jupiters wacht zu seinen Füßen. Die Waffen liegen 
am Boden; denn nicht Mars regiert die Stunde, sondern das Geburtsgestirn des 
Augustus, der Capricornus, verheißt der Welt Frieden und Wohlfahrt. Jetzt ist 
späthellenistische Idyllik und Romantik nicht mehr literarisches Spiel und ästhe- 
tischer Genuß, nicht mehr Schwärmerei müder Großstadtmenschen. Jetzt besitzt 
der Landmann, der Hirt seine neue und doch uralte Bestimmung als Hüter des 
Lebens. Jetzt sagt das allegorische Bild der mütterlichen Natur dasselbe wie die 
Sakrallandschaften frühaugustischer Zeit, welche wir bereits betrachtet haben. Die 
ganze Erde ist jetzt zur beglückten Segenslandschaft geworden. 
Zwei Reliefbilder aus dem Palazzo Grimani, welche sich heute gleichfalls in 
Wien befinden (Abb. 97—98), geben dieser Stimmung Gestalt. Sie gehörten beide 
zu einer Brunnenanlage. Auf dem einen säugt eine Löwin, auf dem anderen ein 
Schaf sein Junges. Die ungebändigte, freie, wilde Natur, in der Dionysos herrscht, 
dessen Attribute und Kultmale auf dem Felsen stehen, und die friedliche, mensch: 
liche, domestizierte Natur, in der der Mensch sich und seinen Haustieren Häuser 
baut, sind nebeneinandergestellt. In beiden Halften der Natur herrscht der Frieden 
des Augustus. Der rächende Mars hat zwar das augustische Zeitalter begründet, 
aber bei Actium war es Apoll, der Gott der Hirten und Musen, der die dionysischen 
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