Ist sie es denn auch wirklich? Die
philologische Forschung ist zu dem Er-
gebnis gekommen, daß die Entstehung
der Romulus-Legende erst hellenistisch
sei. Dann kônnte das archaische Werk
allerdings noch keine Darstellung der
Wölfin der Sage sein. Aber die Haltung
des Tieres ist unverkennbar die Ver:
teidigung, ihr Zustand die Mütterlich-
keit. Das 16. Jahrhundert hatte sicher
recht mit seiner Ergänzung der Zwil-
linge; nur daß diese ursprünglich nicht
so feiste und fröhliche Putti waren,
sondern entsprechend der archaischen
Formensprache und entsprechend dem
besonders herben, trockenen Stil des
Werkes verkleinerte Männlein gez
wesen sein müssen. Was anders als
die Náhrmutter der Zwillinge konnte
denn die Wolfin in Rom bedeuten?
Die ersten Rómer waren Hirten, die
nichts so sehr fürchten mußten wie
den Schrecken der Herden, den reifen:
den Wolf. Deshalb gehort in sinn
vollem Lebensbezug zur Herde der
Wolf, und der griechische Hirtengott
Apollon erschien daher einst in seiner
Gestalt. Auch der rómische Kriegsgott
Mars war zugleich lebenerweckend
4. Apollo aus Veji. Rom, Villa Giulia und lebenvernichtend und ließ sich
einst sehen im Bilde des Wolfes. Ist
es da noch verwunderlich, wenn die Söhne dieses Mars von einer Wölfin genährt
werden? Es ist ein wunderbarer und ursprünglicher Gedanke jener Hirten, daß ihr
Geschlecht gezeugt und aufgezogen worden sei vom Feind ihrer Herden, der sich
dadurch groß und versöhnlich gezeigt hat wie nur ein Gott. Sie selbst verwandelten
sich ja in reißende Wölfe, wenn sie vom Kriegsgott besessen waren; denn von ihm
stammen sie ab und eine Wölfin hat ihren Stammvater genährt. In solchen Bildern
denken nur die frühen und starken Zeiten. Die Sage ist gewiß keine späte Erfindung
oder Entlehnung. Das archaische Standbild der kapitolinischen Wolfin ist ein ein:
wandfreies Zeugnis fiir das hohe Alter der Sage vom Ursprung des romischen Volkes.
Die hellenistische Zeit schuf ein neues Bildwerk, mit dem sie die Sage in ihrer
Weise wiedergab. Die Aedilen Gnaeus und Quintus Ogulnius errichteten es im
10