A M
—
Im zweiten und noch zu Beginn des ersten Jahrhunderts haben wir ähnlich wie
bei der Bildniskunst Kern und Schale zu unterscheiden, wir haben einen italischen
Mauerkern und eine hellenistische Wandverkleidung zu erwarten. Die amorphe
Mauer ist mit Stuck überzogen, und auf dem Stuck sind die tektonischen Glieder,
sind Orthostatenplatten und Quadern, Konsolen, Pfeiler und Gesimse in farbigem
Relief aufgetragen (Abb.63). Nun beginnt die Stilbewegung. Zuerst verschwindet
das Relief. Konsolen, Pfeiler und Gesimse werden nur gemalt. Perspektivische Ver:
kürzungen, Schlagschatten, Vordergriinde und Hintergründe entstehen und werden
immer raffinierter variiert. Gemalte Säulen tragen gemalte Gesimse. Dahinter
scheint die eigentliche Wand aus Orthostatenplatten zurückzutreten, und über den
Konsolen rückt die farbige Quaderwand noch einmal in die Tiefe weg (Taf. ID).
Keine Seite desselben Raumes ist mehr in gleicher Weise verziert. Da steht plötzlich
eine Tür vor uns, geheimnisvoll verschlossen, und über ihr öffnet sich die Wand.
Man sieht unmittelbar über dem Gesims, zwischen dem Gewände einer Türöffnung,
den oberen Rand eines Vorhangs, welcher also hinter der Scheintür herabhängt.
Man sieht über den Vorhang hinaus, unter dem Torbogen hindurch, das unverhoffte
Blau des Himmels. Wir dürfen nicht fragen, wo wir uns befinden, wohin wir blicken,
wie alles zusammenhängt. Wir müssen uns hingeben dem Zauber der Farben, den
Verwandlungen des Ortes.
Nun geht es weiter. Eine Wand in einem anderen Zimmer desselben Hauses,
in der berühmten Mysterien-Villa von Pompeji (Abb. 64), ist noch wunderbarer,
noch reicher. Wir blicken durch eine Säulenreihe auf eine Mauer, welche in bekannter
Weise gegliedert ist. Vom Gebälk dieser Mauer springen rechts und links. ver-
kröpfte Säulenpaare vor, auf denen kostbare Metallgefäße stehen. Über der Mauer
hangt wieder der ominose Vorhang. Er ist im Mittelfeld der Wand, wo die Saulen-
reihe nach oben durch einen Bogen geöffnet ist und an der Stelle, wo auf der anderen
Wand gleichfalls ein Vorhang zu sehen war, etwas nach unten heruntergelassen, so
daß wir den oberen Teil eines Rundbaues, einer Tholos, vor uns haben. Die Mauer
ist offenbar nur eine Scherwand für irgendein Geschehen im Vordergrund, und
hinter ihr ist ein Hof mit Rundbau, also wohl eine Art Macellum. Die Wand ist zu
einer Art Bühnenwand geworden. Und jetzt verstehen wir auch die Tür mit dem
Vorhang. Auch sie stammt aus dem Theater. Hier ging man ‚ab durch die Mitte‘.
Es sind Elemente hellenistischer Bühnenmalerei, welche in dieser römischen Deko-
rationskunst illusionistisch eingesetzt werden. Darauf verweisen manchmal tragische
und komische Masken, welche auf die Gesimse der Scherwand gestellt sind.
Eine weitere Steigerung, Häufung und Abwechslung dieser Motive und eine
Hinzufügung anderer und neuer ist auf. den Wänden der Villa des P. Fannius Sinistor
von Boscoreale anzutreffen, welche sich heute in New York befinden (Abb. 65). Auf
einem Bildfeld sehen wir über die ,Scherwand', welche die Saulenreihe bis zur halben
Höhe schließt und welche in der Mitte nicht durch eine Tür, sondern nur durch
einen Vorhang unterbrochen ist, hinaus auf einen Saulenhof mit Rundbau. Eine
87
E
~ =
re ae