Zweit. Hauptabschn.: Entwickel. d. lat. Schrift. Acht. Kap.: Die Minuskel v.10.b.z.12.Jahrh. 9]
Verdickung. Die Rundungen aber biiBen immer mehr ihre reine Gestalt ein und werden gerader
und eckiger. Diese Veränderungen bilden den Grundzug einer Entwicklung, die nach und nach den
Gesamtcharaker der Schrift und das Aussehen der einzelnen Buchstaben wesentlich modifiziert.
Eine Reihe anderer Momente kommt noch in Betracht. Von dem völligen Verschwinden
des offenen a im fortschreitenden 10. Jahrhundert wurde schon gesprochen; aber auch das unziale a
zeigt eine Wandlung in der Richtung, daß der Schaft von der schrägen Lage früher schon im Ver-
lauf des 10. Jahrhunderts in eine mehr senkrechte übergeht. Berücksichtigt werden ferner die
Unzialform des d mit schrägem, oft fast wagerecht liegendem Schaft, dann Majuskel-N Formen,
die aber keineswegs auf das 10. Jahrhundert beschränkt sind, sondern auch späterhin sich noch
erhalten. Wichtig ist die Form des sogenannten geschwänzten ¢ (e caudata), das vorziiglich als
ein Merkmal der Schrift des 10. Jahrhunderts gilt, mindestens in Handschriften dieser Zeit be-
sonders stark gebraucht erscheint. Das Vorkommen von rundem s zunächst hochgestellt, dann am
Ende der Worte bietet einen Anhaltspunkt für das 11. Jahrhundert, während sein Auftreten im
Worte mitten unter anderen Buchstaben für das nächste, 12. Jahrhundert spricht. Ligaturen und
Kürzungen werden im 10. und 11. Jahrhundert beschränkt, doch spielt in dieser Beziehung die
Individualität des Schreibers, der Inhalt und Charakter des Schriftwerkes eine wichtige Rolle.
Besondere Beachtung verdient schließlich die Wortdistinktion, die, wie erwähnt, im 10. Jahrhundert
noch lange nicht jene vollkommene Durchführung aufweist, wie im 11. oder 12.
Material an Schriftproben aus dieser Periode liegt in den Sammlungen in genügen-
der Anzahl vor, wenn auch genau datierte Handschriften im 10. und 11. Jahrhundert
nicht allzu häufig sind. Das zeigen auch die Beispiele in den AnxpT-TANorschen Tafeln,
die uns eine schóne Entwicklungsreihe der Minuskelschrift im 10. Jahrhundert vor-
führen: Nr. 16, 51, 17, 18, 52 und 53. Sie beginnt mit einer Chronikenhandschrift aus
der Wende des 9. zum 10. Jahrhundert von westfrinkischer Hand, die aber weder
kalligraphische Durchbildung noch Regelmáfigkeit aufweist. Diese Eigenschaften
besitzt in höherem Maße die Augustinhandschrift (T. 51), die als ein Beispiel aus dem
frühen 10. Jahrhundert geboten wird; auch ihren Ursprung wird man im Westen zu
suchen haben. T. 17, aus dem Register Gregors des Grofen, zeigt einigermaßen, welche
Schwierigkeiten Zeit- und Provenienzbestimmung bei diesen älteren Handschriften
bergen, denn während früher dieser Kodex ins 9. Jahrhundert verlegt und Kloster
Werden als Entstehungsort angesehen wurde, sprechen manche Anzeichen dafür, daß
er in Köln im 10. Jahrhundert geschrieben wurde. Diese Beispiele zeigen aber nicht
so eigentlich den früher gekennzeichneten Charakter der Buchschrift dieses Säkulums;
es sind zierliche, klein gehaltene Typen, in denen die Nachwirkung der karolingischen
Minuskel des vergangenen Jahrhunderts sich bemerkbar macht. Einen kräftigen Zug,
so recht das Bild der Schrift aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gewahren wir
in der wichtigen Brüsseler Handschrift der Annalen von St. Vaast (T. 18), und dieselbe
Schrift in kalligraphischer Ausgestaltung zeigt T. 52 aus einer Handschrift mit Briefen
des Neuen Testaments. Erst mit dem letzten Beispiel (T. 53) erhalten wir ein in bezug
auf den Schreiber, die Entstehungszeit und Herkunft genau bestimmbares Stück: aus
dem Bamberger Kodex des Geschichtswerkes, das RICHER, Mönch von St. Remi und
Schüler Gerberts von Reims, 995/6 geschrieben und noch vor 997 durchkorrigiert hat.
Durchaus kein Prachtkodex, sondern in der dem Mónche gewohnten Alltagsschrift
ziemlich rasch und eng geschrieben, bietet er ein instruktives Beispiel franzósischer
Minuskel am Ausgang des 10. Jahrhunderts.
RICHER verwendet Ligaturen und Kürzungen in bescheidenem Ausmaß, Majuskel-N im
Worte ist ihm ganz geläufig. Die Oberschäfte zeigen Verstärkungen, auch zarte Ansatzlinien, die
Schäfte bei à, desgleichen der letzte Schaft von n und m kleine Auslaufstriche, wahrend die vorher-
gehenden entweder gleichmäßig stark verlaufen oder nach links spitzig abbiegen. Volle schóne
Rundungen zeigt diese Hand nur selten; die rasch hingeworfene Schrift trügt zumeist gegenüber
der kalligraphischen einen mehr spitzigen Charakter.
Sind hier vorzüglich Handschriften .des Westens berücksichtigt, so bietet
SterrENS T. 56a (70a), aus dem bilderreichen , Codex Egberti^ genannten Trierschen
Evangelienbuch, die Schrift des Klosters Reichenau aus dem ausgehenden 10. Jahr-
hundert (984—993); sorgfältig und deutlich geschrieben, wiederum den kräftigen und
breitgeformten Duktus zeigend, mit wenig Ligaturen, aber die Buchstaben oft anein-