102 B. Bretholz: Lateinische Palüographie.
Über die sogenannte scrittura bollatica oder littera S. Petri gehen die Ansichten
insofern auseinander, als sich dieselbe nach der einen Ansicht aus der älteren Bullen-
schrift durch stetige Vergróberung ausgebildet,! nach der anderen aber erst gegen
Ende des 16. Jahrhunderts zu bilden begonnen hátte.) Ihr Ende fand sie erst unter
dem Pontifikat Leos XIII.
§ 4. Renaissance.
Wenn wir die bisherige Entwicklung überblicken, so bedarf es — was nicht
nur über den Rahmen unserer Aufgabe hinausginge, sondern auch durch den Mangel
fast aller Vorarbeiten unausführbar erscheint — kaum der systematischen Fortführung
des Prozesses in den folgenden Jahrhunderten, um zu erkennen, daf) das, was wir als
gotische Minuskel, als gotische Buchschrift bezeichneten, Grundlage geworden ist für
die sogenannte „deutsche“ Druckschrift, ebenso wie die gotische Kursive den unmittel-
baren Vorläufer der sogenannten „deutschen“ Schreibschrift darstellt. Man müßte
Buchstabe für Buchstabe verfolgen, um zu zeigen, wie in der Entwicklung von der
Mitte des 15. Jahrhunderts an jene charakteristischen Formen entstehen, die für die
deutsche Schreibschrift als besonders bezeichnend angesehen werden. Einiges wollen -
wir hervorheben. Der Buchstabe a löst den engen Kontakt zwischen Schlinge und
Schaft, und wie es auch sonst im 15. Jahrhundert üblich wurde, bei den Mittelschäften
oben links punktartige Ansätze zu machen z. B. #7, so erhält auch der a-Schaft diese
Bildung, aus der dann unmittelbar unser 4/4 entsteht.3) Langsamer ist die Ausbildung
des e. Dem 15. Jahrhundert ist neben der schön gerundeten und geschlossenen Form e
die Hakenform besonders in der Kursivschrift [* sehr bekannt, aber erst im 16. bildet
sich die Verbindung vom unteren Teil des Schaftes zum Haken aus /^, der direkte
Vorläufer unseres 47. An der Kanzleischrift des ausgehenden 15. Jahrhunderts ver-
folgt man deutlich die Umwandlung des 4 in f durch das Mittelglied / (Mon. pal.
Lief. XII, T. 8a), ebenso des r (XII, 9), dessen mehrfache Formen làngere Zeit neben-
einander erscheinen. Wir haben nur einige der in der modernen „deutschen“ und
„lateinischen“ Schrift markanter sich unterscheidenden Buchstaben herausgehoben,
um zu zeigen, daß die Quelle dieser beiden Schriftarten eine und dieselbe ist, daß die
Scheidung bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, beziehungsweise daß die sogenannte
„deutsche“ Schrift eine Fortentwicklung bedeutet, während die „lateinische“ weit
mehr den älteren Typus bewahrt und nur kalligraphisch ausgebildet hat; eine Ent-
wicklung, die unter dem Einfluß der in Italien im 15. Jahrhundert aufkommenden
Renaissance- oder Humanistenschrift steht.4)
Wie schon der Name besagt, handelt es sich nur um ein Wiederauflebenlassen
älterer Formen, um Nachahmung und genaueste Nachbildung der prächtigen Schrift-
werke, die aus dem 11. und 12. Jahrhundert vorlagen, und es ist bekannt, daß man
es hierin zu einer Fertigkeit brachte, daß die Unterscheidung, ob wir es mit einer Hand-
schrift des 11.—12. oder 15. Säkulums zu tun haben, oft nur noch aus äußeren An-
1) Vgl. Taner zu T. 99.
2) Vgl. Paorr, Grundrid S. 54 und ähnlich STEFFENS in den Erläuterungen zu
T.100 (125).
3) In Mon. pal. XII, 6 (v. J. 1446) steht die neuere Form neben der álteren; in der Kanzlei-
schrifü saec, XVI — ich verweise auf die , Unterrichts-Behelfe zur Handschriftenkunde. Hand-
schriften aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert — ist das a mit Punkt allgemein.
4) Uber den historisch unbegründeten Unterschied zwischen „lateinischer“ und „deutscher“
Schrift vgl. die Bemerkungen bei TRAvsE, Vorl. u. Abh. II, 7.