Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

       
   
  
  
  
  
  
  
   
   
  
   
  
  
  
  
   
    
   
    
   
  
    
   
      
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B. Bretholz: Lateinische Paläographie. 
i Johannes Chrysostomus!) und das Berner Psalterium mit angehüngtem tironischen 
ill Lexikon.?) 
| Mit dem 10. Jahrhundert verschwindet dann allmühlich die Kenntnis der tiro- 
nischen Noten im Abendland für das weitere Mittelalter. Der erste, der auf tironische 
Noten wieder aufmerksam wurde, war Johannes Trithemius (1462—1516), der in seiner 
,Polygraphia" aus einem Psalter ,notis Ciceronianis descriptum" dreißig Zeichen 
und zwei Alphabete bekannt machte. Sowohl im 17. als im 18. Jahrhundert gab es 
Gelehrte — GRUTER, MABILLON und vorzüglich CARPENTIER — die sich mit der Ent- 
zifferung und Publikation tironischer Texte beschäftigten. Das Verdienst der wissen- 
schaftlichen Erforschung des Systems und der vollkommenen Erklärung des Wesens 
dieser Schrift gebührt aber U. F. Kopp, der in seiner „Palaeographia critica" (Mannheim 
In 1817) seine längjährigen grundlegenden Untersuchungen über dieses Thema nieder- 
| legte. Das von ihm verfaBte Lexikon (Bd. I u. II des vorgenannten Werkes) bietet 
bis heute den wichtigsten Behelf zur Entzifferung tironischer Noten. Ein dieses er- 
gänzendes Werk bilden W. Scmwrrz ,Commentarii notarum tironiarum" (Leipzig 
1893). Das neueste Lehrbuch verfafte E. CmaTELAIN, , Introduction à la lecture des 
notes tironiennes“ (Paris 1900). Es bietet neben reichlichen Literaturangaben eine 
vollständige Grammatik und in einem Atlas Proben aus einer Reihe wichüger in 
tironischen Noten geschriebener handschriftlicher und urkundlicher Texte.3) 
Verwandt mit der tironischen Notenschrift ist die Silbentachygraphie, von der 
CHATELAIN (S. 145ff.) drei Systeme unterscheiden zu können meint: das in Italien, 
das in Frankreich und das in Spanien angewandte. Am wichtigsten und am besten 
bezeugt ist jedenfalls das italienische, das sich bisher in elf Urkunden des 10. Jahr- 
hunderts hat nachweisen lassen, von denen die Mehrzahl aus der Kanzlei Papst Syl- 
vester II. (Gerbert) stammt.*) Diese Silbentachygraphie beruht zum Teile auf den 
tironischen Noten, indem man einzelne Silben aus ihr entnommen, andere aus ihren 
Elementen neu gebildet hat; Silben, die sich tironisch nicht oder nur unzulänglich aus- 
drücken ließen, wurden allerdings originell geschaffen. Das Grundprinzip war, daß 
jedes Zeichen eine Silbe darstellte und daher zur Schreibung eines Wortes ebensoviele 
Zeichen notwendig waren, als das Wort Silben hatte.5) 
Man hat die Gerbertsche Silbentachygraphie auch als eine Geheimschrift be- 
| zeichnet, weil er sich ihrer in dem Sinne bediente, daß die von ihm in diesen Zeichen 
niedergeschriebenen Konzepte oder Bemerkungen in Urkunden und anderen Schrift- 
stücken Unberufenen unverständlich bleiben sollten.®) Verbreiteter als die Gerbertsche 
Silbenschrift war für die Zwecke der Kryptographie im Mittelalter ein anderes System, 
das sich schon in früher rômischer Kaiserzeit, von Augustus, ja auch schon von Cäsar 
angewendet findet und darin bestand, daB ein Buchstabe des Alphabets durch den 
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1) W. Senurrz, Monumenta tachygraphica codicis Paris. lat. 2718 (Hannover 1882—1883). 
2) Vgl. SrEFFENS T. 48a, b (56a, b). — Ein Verzeichnis tironischer Hss. bietet — nach PRov, 
Manuel S. 49 — 8. G. n& VmrEs, Exercitationes palaeographicas in Bibl. universitatis Lugduno- 
Batavae instaurandas iterum indicit . . (Leyden 1890); ein Verzeichnis tironischer Psalter LEHMANN 
in der zit. Publikation. 
3) Verschiedene auf tironische Noten bezügliche Aufs&tze finden sich in den Mélanges Chate- 
lain (1910), von A. MEUTZ, P. LEGENDRE, JUSSELIN. 
4) Eingehend hat über diese Tachygraphie in den Urkunden Sylvesters gehandelt: J. Haver, | 
L’écriture secréte de Gerbert und La tachygraphie italienne du X. siócle in Comptes rendus de | 
| l’Académie des inscriptions XV (1897), S. 94—112, 351—375; auch in den gesammelten Werken 
|n von Havzr (Paris 1896), Bd. II. 
| 5) Über das Vorkommen historischer Silbennoten in italienischen Privaturkunden vgl. 
L. SOHIAPARELLI in Bulletino dell’ Istituto stor. italiano n. 31 (1910) mit den Bemerkungen von 
E. v. OTTENTHAL in den MIÓG. XXXI (1910), 662. 
6) Vgl. A. Meister, Die Anfänge der modernen diplomatischen Geheimschrift, Paderborn 
1902, S. 5.
	        
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