Zweiter Hauptabschnitt: Entwickelung der lateinischen Schrift. Zehntes Kap.: Anhang. 111
in der Handschrift des Bellum Actiacum. Das Satzende wird durch Unterbrechung
der Schrift in der Zeile durch einen kleinen freien Raum angedeutet; daneben besteht
die Schreibweise in Zeilen nach dem Sinne: per cola et commata.!) Erst später dringt
die Interpunktion für die Satztrennung ein, wührend die Worttrennung zurückgeht
und vergessen wird.
Bei der groBen Sorgfalt, mit der in alexandrinischer Zeit die Herstellung der griechischen
Texte besorgt wurde, ist es verstándlich, daf schon dort ein festes Interpunktionssystem sich aus-
bildete; und zwar geschah dies mit Hilfe des einfachen Punktes, der je nach seiner Stellung ver-
schiedenen Wert gewann. Der Punkt in der Zeilenmitte bedeutete die blofie Ruhepause beim Lesen
(dictinetio media) der Punkt unten in der Zeile den kleinen Einschnitt im Sinn (subdistinctio),
oben auf der Zeile den vollen Abschlu8 des Gedankens (distinctio finalis). Dieses griechische System
wurde von den Rómern übernommen, doch bildete sich hier eine andere Bewertung der Zeichen aus,
indem die distinctio media (colon) und die subdistinetio (comma) ihren Platz tauschten. Allein
dieses System besall nur theoretische Bedeutung?), denn die Mehrzahl unserer berühmten Majuskel-
handschriften hat bekanntlich eine nur ganz unvollkommene und vielfach nicht ursprüngliche Satz-
interpunktion und die Worttrennung fehlt gleichfalls. Klagte doch auch Alcuin, dal propter rustici-
tatem der schóne Sehmuck der Punktdistinktionen und -subdistinktionen den Schreibern nicht
mehr geläufig sei, doch fügt er hinzu, daf) dieser Schreibgebrauch wieder herzustellen wáre.?)
Seit der karolingischen Schriftreform beginnt denn auch eine regelmáDigere
Worttrennung, deren mehr oder weniger konsequente Durchführung geradezu einen
Anhaltspunkt für Zeitbestimmung darbietet; ferner entwickelt sich ein der Minuskel-
schrift angepaftes neues System von Zeichen für die Satzinterpunktion, dessen An-
fánge man in Handschriften rómischer und irischer Provenienz bis ins 7. Jahrhundert
zurückverfolgen kann. Dieses System besteht entweder nur aus Punkten oder aus einer
Kombination von Punkten und Strichen, und auf die einfachste Form zurückgebracht
wáren folgende drei Zeichen als Grundlage anzusehen: . (distinctio constans), / (d.
suspensiva) und ; (d. finitiva).) Háàufig begegnet man in den Handschriften der Karo-
lingerzeit der Gruppierung von drei Punkten in Dreiecksform, oder von zwei Punkten
mit Strich oder dem Doppelpunkt, in vielen Codices gilt auch der einfache Punkt als
ausschlieBliches Zeichen für kleine, mittlere und Schlufpause. Mit einem Worte: der
Varianten sind viele, und bestimmte Gesetze haben sich aus den bisherigen Beobachtun-
gen noch nicht ableiten lassen. Jedenfalls nimmt dann seit dem 13. Jahrhundert die
UnregelmäBigkeit wieder zu, und auch Fälle, daß die Interpunktion vóllig unterbleibt,
begegnen. Dagegen ist die Worttrennung, die seit dem 8. Jahrhundert immer strenger
befolgt wurde, mit dem 12. als ein wesentlich abgeschlossener Prozeß zu betrachten.
Urkunden zeigen sowohl was die Worttrennung als die Interpunktion betrifft, eine
raschere Entwicklung.
Von den uns sonst geläufigen Zeichen fehlt das für Ausrufungen bis ins 15. Jahr-
hundert völlig, dagegen ist das Fragezeichen alt, nur wird es oft nicht bloß ans Ende des
Satzes, sondern auch an den Anfang desselben gesetzt und zeigt natürlich mannigfache
Formen, aus denen sich die moderne allmählich ausgebildet hat. Ebenso sind verschieden-
artige Anführungszeichen schon früh nachweisbar; Klammern sind im 15. Jahrhundert
bereits häufig. Zu den Zeichen, die ganz oder teilweise wieder abhanden gekommen
sind, gehóren die Reverenzpunkte (gemipunetus), bestehend aus zwei nebeneinander
gesetzten Punkten, und dort angewandt, wo man nur Titel oder Würde einer Person,
1) Beispiele bis ins 9. Jahrh. s. bei WATTENBACH, Anleitung S. 90, PAorr-LogMEYER S. 80;
W. SrRiNDBERG, Die gothische Bibel (Germ. Bibl. IL, Untersuchungen u. Texte, Bd. 3 (1908),
S. XXVI.
2) Vgl. die Ausführungen über das Interpunktionssystem bei Isrporus, Origines I, 19.
3) ,, Punetorum vero distinctiones vel subdistinctiones licet ornatum faciant pulcherrimum
in sententiis, tamen usus illorum propter rusticitatem pene recessit a scriptoribus; sed sicut totius
sapientiae decus . . . renovari incipit, ita et horum usus in manibus scribentium redintegrandus esse
optime videtur." Epist. 8D in JAFFE, Bibl. rer. germ. VI, 459.
4) Vgl. WATTENBACH, Anleitung S. 9091.