99 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
gleiteten!), und die auch für die Kritik der Handschrift zumeist von großem Belange
sind; dabei ist noch zu berücksichtigen, daß bei den einfacheren Kulturverhältnissen
des Mittelalters die Beschränkung der schriftstellerischen Arbeit auf bestimmte Kreise
die Schriftbeflissenen zwang, für die mannigfachen Erfordernisse des Schreibens selber
zu sorgen. Schon beim Schreibstoff mußte, wenn es Pergament war, der Schreiber zum
mindesten die letzte Feile anlegen, Schabmesser und Bimsstein auf seinem Schreibpult
haben, um schlecht bearbeitete Stellen sich herzurichten, er mußte Risse und Löcher
ausflicken oder vernähen; allerdings haben Schreiber, die sich mit solchen zeitraubenden
Nebenarbeiten nicht gern aufhielten, schadhafte Stellen, wie man in Handschriften
sehr oft wahrnehmen kann, mit Tinte oder Farbe umzeichnet und sie beim Schreiben
umgangen.
Die erste Arbeit nach der Beschaffung des Schreibstoffes war die Herrichtung
des Formats. Das Mittelalter kennt keine bestimmten Büchergrößen, wenn man auch
allgemein sagen kann, daß in verschiedenen Zeitperioden und Ländern und für die
verschiedenen Literaturgebiete bestimmte Formate bevorzugt wurden?); im allge-
meinen betrachtet herrschen aber die mannigfachsten GrôBenverhältnisse, für die un-
sere Bezeichnungen Folio, Quart, Oktav fast noch weniger passen, als für die modernen
Bücher. Man hat sich daher wie bei Urkunden- so auch bei Handschriftenbeschreibung
gewóhnt, unmittelbar nach der Angabe, was für ein Beschreibstoff angewendet wurde,
die Breite und Höhe der Blätter in Zentimetern anzuführen. Denn auch bei Urkunden-
blittern variiert die GroBe und das Format ungemein, wenn auch, wie man aus KONRAD
voN MURES 1275 geschriebener Ars prosandi entnimmt, im allgemeinen der Grundsatz
galt, daß Länge und Breite der Carta in einem passenden Verhältnis zueinander stehen
und. weder in der Länge noch in der Breite das übliche Maß überschritten werden solle.?)
Während für handschriftliche Zwecke das Pergament- oder Papierblatt bis auf
seltene Ausnahmen der Länge nach beschrieben wird, ist bei urkundlichen Ausferti-
gungen die Schreibweise im Querformat die gewöhnlichere, so daß man Urkunden,
die mehr lang als breit sind, als cartae transversae zu bezeichnen pflegt.
Die Grundlage der Kodexform bildet der in zwei Blätter gebrochene Bogen; ein
solches Blatt führt den Namen folium. Doch fügt man nicht Bogen an Bogen, noch
auch schiebt man — was allerdings in älteren Handschriften vereinzelt vorkommt —
Bogen in Bogen ins ungemessene, sondern man verbindet eine beschränkte Zahl von
Bogen durch Ineinanderschieben zu einer Lage; die Vereinigung von vier Bogen mit
zusammen acht Blättern zu einem Heft bezeichnet man als Quaternio, doch dient der
Name Quatern auch allgemein zur Bezeichnung einer Lage überhaupt ohne Rücksicht
auf die Zahl der ineinander gefügten Bogen. Bei einigermaßen genauerer Handschriften-
beschreibung wird man sich nicht begnügen, die Anzahl der Lagen anzugeben, sondern
sie als Binien, Ternien, Quaternien, Quinternien, Sexternien — das sind wohl die üblich-
sten — unterscheiden. Denn es müssen sehr planmäßig angelegte Bücher sein, die aus
einer bestimmten Zahl gleichmäßiger Lagen bestehen, meist wechseln sie in bunter
Reihenfolge, oder sind. durch Ausschneiden einzelner Blätter verstümmelt, durch Ein-
fügen solcher unregelmäßig gemacht; man pflegt auch zu konstatieren, ob Fleisch- und
Fleischseite, bzw. Haar- und Haarseite aufeinander liegen oder umgekehrt, oder ob
überhaupt keine Regelmäßigkeit herrscht.
1) Vgl. J. LousıERr, Die Herstellung der mittelalterlichen Bücher nach einer Miniatur des
19. Jahrh., in Z. f. Bücherfreunde XII (1908—09), 409—412.
2) Vgl. WaATTENBACH, Schriftwesen 8. 180f£, Brass a. a. O. S. 343.
3) Die oft zitierte Stelle lautet: carta. . . sic quadranguletur, ut latitudo longitudini respondeat
convenienter et ne latitudo nec longitudo modum debitum excedant et mensuram; s. WATTENBACH,
Schriftwesen S. 189. — Als Beispiele auffallend großen und auffallend kleinen Formats verweise ich
auf mein Buch, Das mähr. Landesarchiv, S. 142, Nr. 150, 151.
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