94 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
sie zur Schriftkunde und -kritik keine direkte Beziehung haben, so spielt dagegen die
Tinte (Dinte) dabei eine bedeutsamere Rolle. Von der schwarzen Farbe führt sie den
einen Namen atramentum librarium, nach ihrer Zubereitung durch Kochen den anderen
encaustum oder incaustum, auch schon im 4. Jahrhundert nachweislich. Von dieser
Bezeichnung leiten sich die in der italienischen (inchiostro), englischen (ink), franzó-
sischen (encre), böhmischen Sprache (inkoust) ab, während der deutsche Name auf
das mittelalterliche tinctura, tincta zurückgeht. An Rezepten zur Tintenerzeugung
fehlt es nicht.!) Den Grundstoff bilden in Regenwasser oder leichtem Bier aufgelóste
zerriebene Galläpfel mit verschiedenartigen Zusätzen, Vitriol, Wein, Essig usw. Der
Farbenunterschied in den Tinten, der uns heute in den Handschriften entgegentritt,
vom tiefsten glänzenden Schwarz bis zu unschönem Lichtgrau und Lichtgelb ist nicht auf
die Zubereitung allein zurückzuführen, auch die Einflüsse von Licht, Luft und Feuch-
tigkeit, denen die Schriftwerke ausgesetzt waren, sind dabei zu berücksichtigen; im
allgemeinen aber bezeichnet man das 13. Jahrhundert als die Periode, von der ange-
fangen mindere Tintenarten häufiger vorkommen. Die Tintenunterschiede haben bei
Urkunden wie bei Handschriften oft großen kritischen Wert, weil sie Anhaltspunkte
bieten für die Bestimmung des Schriftwechsels, der Nachträge, gleichzeitiger und spä-
terer Korrekturen.) Die Anwendung anderer als schwarzer Tinte für die Textschrift
gehört zu den großen Seltenheiten im mittelalterlichen Schriftwesen?), abgesehen von
Gold- und Silberschrift für Purpurhandschriften. Dagegen spielt die rote Farbe von
jeher für die Hervorhebung der Abschnitte, Überschriften, Kapitelanfünge eine grofle
Rolle, und der Ausdruck rubriea ist daher entnommen. Die reichlichere Anwendung
verschiedener Farben, wie vorzüglich rot, blau, grün, hángt dann mit der Ausbildung
der Initialen und Randverzierungen in den Handschriften zusammen. Diese Arbeit
greift aber über die eigentliche Aufgabe des Textschreibers hinaus, wurde entweder von
ihm nach Vollendung der Handschrift durchgeführt oder einer zweiten Hand über-
lassen, und. dadurch erklärt es sich, daß bei vielen Codices der für diesen Zweck freige-
lassene Raum unausgefüllt geblieben ist. Von dem Namen der Farbe minium wird die
Bezeichnung für die Ausschmückung überhaupt miniare neben rubricare genommen;
daneben kommt vor lineare, titulare, besonders illuminare.
Wie die Buchmalerei greift auch der Bucheinband mehr in das Gebiet der Kunst-
geschichte über, aber ohne eine Umhülle kann das Buch nicht als fertiggestellt,
nicht als Buch im eigentlichen Sinne des Wortes angesehen werden. Die Mannigfaltig-
keit der Bucheinbände in mittelalterlicher Zeit ist ungemein groß, und der Haupt-
unterschied gegenüber dem modernen Einband liegt darin, daß damals die Einbände
selbst für kleine Bücher aus massiveren Stoffen, Holz, Leder, Pergament und durch
Klappen, überhängende Zipfel, Spangen, Bänder, Riemen, Schließen, Schlösser‘) ver-
schlußfähig, gemacht wurden. Die Untersuchung des Einbandes bei Handschriftenbe-
schreibung darf nie unterlassen werden, denn oft ist die einfache Pergamentumhülle
ein Blatt aus einem älteren zerstörten Kodex oder eine Urkunde, die wegen ihres zu-
1) Vgl. WATTENBACH, Schriftwesen, 237ff., ROCKINGER a. a. O. S. 29ff. Im mähr. Landes-
archiv finden sich zahlreiche Rezepte in einer Hs. saec. XV. mit der Überschrift: ,Incipiunt aliqua
prepulcra et valde utilia pro uno quolibet notario vel scriptore librorum composita per ven. virum
Jacobum dictum Modista de incausta deque aliis coloribus, de creta, de aliis quam plurimis com-
posicionibus.“
2) Über die Möglichkeit, aus der Zusammensetzung und Färbung der Tinte Momente für
die zeitliche Bestimmung von Schriftwerken zu gewinnen, vgl. die NA. XXII, 332, nr. 106 erwähnte
Arbeit von BRIGIUTI.
3) WATTENBACH, Schriftwesen, S. 247 führt die wenigen bekannten Beispiele, in denen ganze
Handschriften in roter Farbe geschrieben worden sind, an.
4) Das Brünner Stadtarchiv besitzt zwei Beispiele von Handschrifteneinband mit über-
hängenden großen Lederlappen, die nicht sehr häufig vorkommen, und ein noch selteneresSchloBbuch.
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