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Erster Hauptabschn.: Schriftwesen. Drittes Kap.: Verbreit. u. Aufbewahr. d. Schriftwerke. 33
Aufbewahrung in geeigneten Räumen zukommt. Für das Abendland und die latei-
nische Literatur ist es die jahrhundertelange Tätigkeit des Benediktinerordens auf
wissenschaftlichem Gebiete, der die reiche Fülle großartiger Bibliotheken in Italien,
Frankreich, Spanien, England und Deutschland zu danken ist. Schon die Benediktiner-
regel setzt das Vorhandensein einer Klosterbibliothek voraus, aber im Sinne Benedikts
sollte die Beschäftigung mit den Büchern neben dem Gottesdienst und den notwendigen
Handarbeiten nur einen bescheidenen Raum einnehmen und hauptsächlich der Erbau-
ung und Festigung im Glauben, nicht eigentlich dem literarischen und wissenschaft-
lichen Interesse dienen. Nach dieser letzteren Richtung ist das Wirken des ostgotischen
Staatsmannes und Gelehrten Cassiodorus von nachhaltiger Bedeutung geworden, der
um das Jahr 540 die Leitung des von ihm gegründeten Benediktinerklosters Vivarium
übernahm.!) Ihm, der sich im Vollbesitze der klassischen Bildung der damaligen Zeit
befand, schwebte die Gründung einer theologischen Hochschule in Rom vor, und als
sich dieser Plan angesichts der politischen Verháltnisse nicht durchführen lief), suchte
er durch eigene Tàtigkeit und die seiner Mónche der antiken Literatur und der Wissen-
schaft in den christlichen Klóstern eine sichere Zufluchtsstütte zu schaffen. Die
Bibliothek nahm einen wichtigen Platz in seinem ganzen Plane ein. Er war selber
schriftstellerisch ungemein arbeitsam, er sammelte Codices, ließ sie abschreiben und
schuf auf diesem Wege eine große Bibliothek, zu deren Benutzung er für die Mönche
in seinen ,Institutiones divinarum et saecularium litterarum" gleichsam eine Anleitung
verfafte.
Wie sich nun der Sinn für reiche Büchersammlungen von den Benediktiner-
klóstern Italiens, besonders dem Mutterkloster Monte Cassino, in der Folgezeit weiter
ausbreitete nach Gallien, Spanien und England, von dort aus wieder zurückflof ins
weite Frankenreich, kann hier nur angedeutet werden.?) Diese ersten Keime fanden
dann durch die neuen Anregungen, die Karl der Große und seine Zeit den geistigen
und literarischen Bestrebungen boten, sicheren Halt; und wenn die Bücherschütze
der großen Klöster und Kathedralkirchen in vorkarolingischer Zeit immerhin als
bescheiden angesehen werden müssen, so entwickelten sie sich gegen Ende des 8. und
im. 9. Jahrhundert zusehends. Wir wissen, daß Reichenau im Jahre 822 eine Bibliothek
von 450 Handschriften besaß, in denen alle Zweige der damaligen Literatur vertreten
waren,?) St. Riquier dürfte nach dem Inventar vom Jahre 831 an 500, Lorsch im 9. Jahr-
hundert an 600, Bobbio zur selben Zeit an 700 Bände gezählt haben.‘) Diese einzelnen
Beispiele beweisen, mit welcher Raschheit sich der Geistesrichtung der Zeit folgend
die Klosterbibliotheken damals entwickelten. Es entsprach den wahren Verhältnissen,
wenn im Mittelalter das Wort galt: claustrum sine armario est castrum sine armis;
denn wie die Benediktiner, so haben auch Zisterzienser und Kluniazenser, Augustiner
und Prämonstratenser, Kartäuser und Franziskaner mit gleichem Eifer für ihre Biblio-
theken gesorgt.
Die Kloster- und Kirchenbibliotheken des Mittelalters sind als ôffentliche Biblio-
theken in dem Sinne wenigstens zu betrachten, daß ihre Benutzung nicht ausschließlich
den Mitgliedern des Hauses gestattet war, sondern daß auch andere Personen Zutritt
erhielten, um zu lesen, und daß man auch die Bücher zum Zwecke des Abschreibens
auslieh. Allerdings war man in dieser Hinsicht zumeist sehr vorsichtig, und wie man
die sogenannten libri vagantes nicht gern ohne Pfand hergab und von wertvollen
1) Vgl. über ihn A. FRANz, M. Aurelius Cassiodorus Senator. Ein Beitrag z. Geschichte der
theologischen Literatur (1872); ferner R. BEER, Bemerkungen über den ältesten Handschriften-
bestand des Klosters Bobbio, im Anzeiger der Wien. Ak., phil.-hist. Kl., Jhg. 1911, Nr. XI.
2) In grofen, allgemeinen Umrissen schildert diesen ProzeB TRAUBE a. a. O. S. 106ff.
3) Vgl. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands II, 197 mit vielen anderen derartigen Nach-
weisen. 4) Vgl. Cranx, S. 96ff.
GrundriB der Geschichtswissenschaft I. 2. Aufl. 3