40 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
E. HILDEBRAND, „Svenska skriftprob frän Erik tid till Gustav III.“ und einer dänischen größeren
Sammlung, betitelt „Paleografisk Atlas“, gleichfalls handschriftliches und urkundliches
Material vom 12.—16. Jahrhundert umfassend, herausgegeben von der Arnamagnäischen Stiftung
und bearbeitet von Kr. KÄLUND (Kopenhagen 1903, 38 Tafeln mit 64 Nummern in Lichtdruck,
Neue Serie 1907), die ebenso wie etwa FrAwwERMONTS ülteres Werk: , Album paléographique du
nord de la France" (1896) enger begrenzte Schreibprovinzen, aber diese umfassender und tiefer
beleuchten, sowie mit dem Hinweis auf mehrere im weiteren Verlaufe der Darstellung zu erwühnende
Werke sei diese Übersicht abgeschlossen.
Es wäre nur noch hinzuweisen auf die großartigen Unternehmungen der Reproduktion
ganzer Handschriften, wie die „Codices graeci et latini phototypice depicti“, die in Leiden durch
pv RrEU und ScaTo DE VRres seit 1897, die ,Codices e Vaticanis selecti phototypice expressi, iussu
Pii papae X. consilio et opera curatorum bibliothecae Vaticanae“, davon 1910 bereits der XI. Bd.
erschien, !) und neuestens die ,Monumenta Palaeographica Vindobonensia. Denkmäler der Schreib-
kunst aus der Handschriftensammlung des habsburg-lothringischen Erzhauses“, deren Lief. I
(Leipzig 1910) zahlreiche Blätter von ,De Trinitate“ des Hilarius Pictaviensis und vem ,,Goldenen
Psalter Karls d. Gr.“ bietet.
8 3. Übersicht der Schriftentwickelung.
In ununterbrochener Entwicklung begriffen, von zahlreichen äußeren Faktoren
beeinflußt, setzt die Geschichte der Schrift dem Versuche starrer Einteilung der Schrift-
arten nach Ort und Zeit, der genauen Benennung aller ihrer Formen begreiflicherweise
große Schwierigkeiten entgegen. Überall sind Übergänge wahrnehmbar, die Wandlungen
vollziehen sich stetig, bedürfen langer Zeitperioden, bevor sie klar und bestimmt in
die Erscheinung treten. Allein die Grundzüge der Schriftentwicklung von der Römer-
zeit bis auf uns sind gleichwohl deutlich erkennbar.
Den ersten und wichtigsten Gesichtspunkt für eine systematische Einteilung
der Schriftarten bildet das Linienschema. Danach ergibt sich eine Scheidung in zwei
Hauptgattungen: Majuskelschriften, bei denen die gleich groBen Buchstaben zwischen
zwei Linien stehen ABFPS, und Minuskelschriften, bei deren vierlinigem Zeilen-
schema die einzelnen Buchstaben verschiedene Größe annehmen abfps. Es ist wohl
bei einigen dieser Lettern auf den ersten Blick erkennbar, daß die Minuskelbuchstaben
aus den Majuskelbuchstaben durch Umformung in dem Sinne entstanden sind, daß
nur die charakteristischen Teile beibehalten wurden.
Bevor aber noch dieser Umwandlungsprozeß der Majuskel in Minuskel sich
vollzieht, erleidet die Majuskelschrift durch zwei weitere Momente eine Fortbildung.
Die Majuskelbuchstaben können in vorwiegend geraden oder abgerundeten Linien
auftreten: A À M (?); sie können ferner ganz selbständig dastehen oder miteinander
verbunden erscheinen: BM BR”. Nach diesen Gesichtspunkten scheidet sich die
Majuskelschrift in drei Unterabteilungen: 1. die Kapitale, mit geraden Linien (Schäften) ;
2. die Unziale, mit gerundeten, gebogenen Linien; 3. die Kursive, mit untereinander
verbundenen Buchstaben.
Den Ausgangspunkt der Schriftentwieklung bildet somit die Kapitalschrift
(Littera Romana, litterae capitales oder quadratae), ,die Urform aller lateinischen
Schrift des Mittelalters", wie SICKEL sie zutreffend bezeichnet hat, auf die sich jeder
Buchstabe unserer heutigen Alphabete zurückführen là8t. Die Unziale zeigt gegenüber
der Kapitale nicht nur die Eigentümlichkeit der Rundung gewisser Buchstabenteile,
sondern bei ihr beginnt sich auch schon der Prozef der Durchbrechung des Zwei-
linienschemas zu vollziehen, indem einzelne Buchstaben unter die Zeile verlängert
werden, ohne dal} aber hierdurch an dem Buchstabenbilde etwas Wesentliches ge-
dndert wurde: P P I]. In weiterer Ausbildung entsteht dann die Halbunziale, die
noch an den Formen der Unziale festhált, aber bei einer Anzahl von Buchstaben dem
Vierlinienschema sich anpaBt. Neben der Halbunziale, der langsam geschriebenen
1) Über diese zwei Sammlungen, sowie über Handschriftenreproduktion in integro vgl. im
allgemeinen Vorl. u. Abh. von L. TnAusE, Bd. 1, S. 76—80, und K. KRUMBACHER a. a. O. S. 10.
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