Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

  
  
  
58 B. Bretholz: Lateinische Paläographie. 
Kapitale, Kursive und Unziale, in sich aufnimmt. Nicht mit Unrecht wird sie daher 
als ,scriptura mixta“ bezeichnet, doch ist wegen der besonders starken Anlehnung 
an die Unziale der von den Maurinern (und nicht erst von SCHÔNEMANN) eingeführte 
Namen , Halbunziale“ (écriture demi-onciale, semiuncialis scriptura) charakteristischer.!) 
Es ist jene Schriftgattung, die durch merkliche Ausbildung von Ober- und Unter- 
lingen den Übergang der Schrift vom zweilinigen in das vierlinige System vermittelt, 
von der Majuskel zur Minuskel. Als Minuskelschrift kann sie nicht gelten, denn noch 
bewahrt sie allzuviel Majuskelelemente; da aber gleichwohl das GróDenverhàltnis 
der Buchstaben, das bei ihr obwaltet, an die im weiteren Entwicklungsgange der 
Schrift entstandene ,Minuskel" der Karolingerzeit gemahnt, hat WATTENBACH auch 
die Bezeichnung ,vorkarolingische Minuskel" für sie in Vorschlag gebracht.?) 
Charakteristisch für die Halbunziale ist der Wechsel zwischen zwei verschiedenen Alpha- 
beten entnommenen Formen bei gewissen Buchstaben. In auffallend konsequenter Weise erhält 
sich durch die Jahrhunderte Majuskel-N, wenn es auch oft so platt zusammengedrückt wird, da 
es nur den Raum zwischen den beiden Mittellinien einnimmt und von den übrigen Buchstaben 
überragt wird. Aber spätestens seit dem 6. Jahrhundert dringt in die halbunzialen Texte auch das 
aus der kursiven Schreibung entstandene Minuskel-a ein. Bei dem Buchstaben G herrscht dagegen 
jene Gestalt vor, die dem Kursivalphabet entnommen erscheint: 3 (Grundform); doch ist die reine 
Unzialform keineswegs verdrängt. Minuskelformen nehmen an die Buchstaben b und d, doch er- 
innert der oft noch offene Bogen an den Zusammenhang mit der Unziale, ebenso wie die starke Um- 
biegung des letzten Schaftes bei m. 
Ein charakteristischer Buchstabe der Halbunziale ist 4. Aus der unzialen Form, bei der 
an den rechten Schaft di schmale Schlinge sich anschließt, entwickelt sich das halbunziale a, indem 
die Schlinge zum Halbbogen sich rundet, an den sich der verkürzte Schaft mit oder ohne AbschlieBung 
des Bogens gerade anlehnt; man sagt, es sei einem aneinander geschobenen c und ¢ oder zwei an- 
einander geschobenen cc &hnlich, weil der Schaft unten stark gerundet erscheint. Diese auffallende 
Rundung der Schaftlinie tritt auch bei T hervor, wührend in der Unziale der Schaft noch mehr 
gerade oder höchstens mit leiser Umbiegung abbrach. Auch E gehórt zu den Kennzeichen der 
Halbunziale;) Bogen und Cauda verschmelzen zumeist zu einem einzigen gewundenen, ziemlich 
tief herabhüngenden Strich; daB! daneben die reine unziale Gestalt auch vorkommt, ist selbstver- 
stándlich. Der Buchstabe S erscheint ebenso in der Majuskelform als S, wie in der Minuskelform 
des sogenannten langen f. An Varianten reich ist X; bald innerhalb der Mittellinien, bald überhóht, 
der obere Bogen bald noch offen, bald durch die Zunge abgeschlossen, die aber stets stark betont 
erscheint und den Anschluf an den nachfolgenden Buchstaben sucht. 
Die Verbindung der Buchstaben untereinander gewinnt in dieser Schriftart große Bedeutung, 
denn die stark ausgebildeten Zungen, Cauden und Balken wie bei E, F, G, R, T sind hierfür vor- 
züglich geeignet, und die ülteren Ligaturen, wie N und S, N und T, U und M sind keineswegs ver- 
gessen. Dagegen hat die Worttrennung noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht und auch 
die Kürzungen überschreiten nicht wesentlich das Ma, das sie in Kapital. und Unzialhand- 
schriften beansprucht haben. 
Schriftwerke in Halbunziale verfolgen wir vom Ende des 5. Jahrhunderts; als 
ültester Beleg gilt der Veroneser Palimpsest der ,fasti consulares" in seinem ersten 
487 geschriebenen und 494 fortgesetzten Teile.*) Besonders aus dem 6. Jahrhundert 
haben sich einige Handschriften erhalten, die für die Beurteilung der Schrift wichtig 
sind, weil sie sich datieren lassen. Die patristische Literatur, Papstkataloge und 
Canonessammlungen, Rechtsbiicher finden wir am stärksten vertreten.5) Die ältesten 
genau datierten Beispiele in der Sammlung ZANGEMEISTERS und WATTENBACHS sind: 
1) Nouv. Traité III, p. 72, 204ff., von dort übernommen von SCHÖNEMANN, Versuch eines 
vollständigen Systems der Diplomatik I, 529; vgl. TRAUBE, Vorl. u. Abh. I, 52, 54. 
2) WATTENBACH, Anleitung S. 27. 
3) A, G, R werden von PAorr (vgl. GrundriB S. 22) als ,typische Buchstaben“ der Halb- 
unziale in erste Linie gestellt, dann noch M, N und 7. 
4) Zaxa.-Warr. 'T. 29/30. 
5) Schon WATTENBACH hat in seiner Anleitung S. 27/28 die wichtigsten Stücke mit Angaben 
über die Faksimile aufgezählt, wozu die neueren Lehrbücher und Sammlungen reiche Ergänzungen 
bieten. Von besonderer Bedeutung auch für diese Schriftart ist die Faksimilesammlung CHATELAINS 
„Uncialis scriptura“, in der sich unter den 100 Tafeln mehr denn 50 Proben halbunzialer Schrift 
nebst reichen Erläuterungen finden. 
  
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