Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

  
66 B. Bretholz: Lateinische Paläographie. 
der einzelnen Buchstaben ist eine konsequente, es herrscht eine Mannigfaltigkeit und 
Freiheit, durch die die Schwierigkeit der Entzifferung dieser Schriftstücke noch bedeu- 
tend erhöht wird. Man sieht in den verschiedenen Formen, die fast jeder Buchstabe 
annehmen kann, die verschiedenartigen Einflüsse, die bei der Entwicklung dieser Schrift- 
art sich geltend gemacht haben, bald solche der älteren römischen Kursive, bald der 
Kapitale und Unziale, bald auch der gleichzeitigen griechischen Kursive. Im ganzen 
aber zeigt die Schrift ein neues Alphabet, das im einzelnen von Buchstabe zu Buchstabe 
zu verfolgen hier nicht umgangen werden darf. 
Der Buchstabe a hat bei dem Bestreben, die beiden Schenkel, aus denen er in der älteren 
rómischen Kursive nur noch besteht, in einem Zuge zu machen, eine neue Gestalt angenommen, 
das sogenannte „offene a“, ähnlich dem w, aber dadurch von diesem unterschieden, daß der zweite 
Schaft bei a gerundet ist und an den folgenden Buchstaben anschließt, während er bei u eckig ab- 
bricht und nie mit dem nächsten Buchstaben sich verbindet (A.-T. 1e, Z. 1). Dieses offene a füllt 
bald den vollen Raum zwischen den Mittellinien aus, ófter aber wird es verkleinert den Buchstaben 
vorgesetzt oder angehüngt. 
Bei b taucht gelegentlich noch die eigenartige Form der älteren römischen Kursive auf (WEzss. 
21, Z. 2, vgl. auch Tnowrsox S. 213), aber die regelmäßig erscheinende ist Minuskel-b, der Schaft, 
der unten umbiegend gleich den Bogen in einem Zuge bildet; von hier aus ist eine Kursivverbindung 
nicht üblich, nur die vorangehende Letter kann sich mit b ligieren. 
Der Buchstabe c erscheint bald niedrig, bald hoch (SrErr. 19—22, Z. 7 u. 8 i. f.); das hängt 
meist von dem benachbarten Buchstaben ab, ob diese oder jene Form leichter die Kursivverbindung 
ermóglicht, denn c kann von oben oder unten mit dem folgenden Buchstaben zusammengezogen 
werden. Eigentümlich und auch bei e sich wiederholend ist die Art der Ligatur mit der voraus- 
gehenden Letter: es wird auf eine stark geschwungene Zunge oder einen ähnlich gebildeten Balken, 
die dann gleich den Fuß von c bzw. e bilden, mit spitzem Ansatz aufgestellt: pC (rc), of (tc). Dann 
gibt es noch eine eingekerbte Form (Wzss. 30, Z. 5, 7, 8; STEFF. 21— 23 b oft) und eine eigentümlich 
umgestürzte Form, besonders bei der Verbindung cce, sehr ähnlich der ebenfalls umgekehrten 
Form des £ (A.-T. 1e, Z. 1 ,acce-" zu vgl. mit 2, Z. 2 et te-).*) 
Beim Buchstaben d gewahren wir vorerst und am häufigsten die aus der altrömischen Kursive 
durch Geradestellung des Schaftes entstandene Form, die vom Bauch aus begonnen wird; wiewohl 
eine Verbindung vom Schaft her nicht üblich ist, wird dieser zumeist von oben nochmals herunter- 
gezogen, verdoppelt, wodurch so leicht Schleifen entstehen; der Schaft bricht dann nicht nur eckig 
ab, sondern erhült spitzen Ansatz unter die Zeile (SrErF. 23—25b oft). Wenn die Ligatur vom vor- 
angehenden Buchstaben zum Bauch des d hergestellt werden soll, erhält es eine offene Form (Wrss. 
29, Z. 1); und eine dritte Gestalt nimmt es an in der Verbindung d?: da beginnt man den Buchstaben 
bei der Schaftspitze und zieht aus der Schlinge in mehr oder minder spitzem Winkel das kurze + 
(Srerr. 19=22, Z. 4 ,tradi-"); ganz ühnlich wird d aber auch gemacht bei Ligatur mit voran- 
gehendem a oder e (STEFF. 20=23a, Z. 21, 22) oder mit nachfolgendem e oder r (A.-T. 2, Z. 2, 4). 
Wir kommen zu e, demjenigen Buchstaben, der wohl am meisten Verbindungen nach vorn 
und rückwärts eingeht und danach seine Form mannigfaltig àndert. Unziales €, bei dem die Zunge 
bis an den nächsten Buchstaben herangezogen wird, ist nicht selten (Wzss. 30, Z. 7; STEFF. 19, Z. 2; 
22, Z. 36). Daneben aber erscheint das in einem Zuge gemachte e, meist (vgl. das beim Buchstaben 
c Gesagte) von unten hinauf gezogen, oft aber auch umgekehrt von der Zunge begonnen, damit die 
untere Rundung den Anschluß bilde; dabei reicht regelmäßig die obere Schlinge hoch hinaus. Man 
beachte die verschiedenen e-Formen nebeneinander bei STEFF. 23=2bb, Z. 2, 3if. 
Der Buchstabe f, mit seinem Schaft meist tief unter die Zeile reichend, zeigt die obere Run- 
dung bald stark ausgebaucht, bald spitzoval, sehr oft mit der Zunge in eine Schleife umgewandelt, 
von der aus die Kursivverbindung bewerkstelligt wird. 
Recht mannigfaltig und originell ist g gestaltet. Es gehört zu den wenigen Buchstaben, die 
sich in Majuskelform dem neuen Alphabet einfügen (SrErr. 21 —23 b oft); häufiger ist allerdings jene 
Form, bei der sich die Cauda vom Bogen losgelóst hat, dieser zu einem gewundenen oder geraden 
Balken verkümmerte, an den sich unten die stark ausgebildete Cauda als s-artige Linie anhängt 
(Srerr. 19=22, Erläut.). Der Balken ermöglicht nun die Kursivverbindungen in mannigfacher Art, 
indem a, i, o daraus herauswachsen, c, e auf demselben aufstehen, r, s die senkrechte Verlängerung 
des Balkens gleich als Schaft für sich benutzen. 
Dagegen hat der Buchstabe % keine Varianten aufzuweisen; es ist das unziale /í, bei dem 
der Aufsatzstrich definitiv verloren gegangen ist, nur wird der erste Schaft regelmàfig erhóht. Die 
Ligatur mit dem vorangehenden Buchstaben ist durch den Schaft móglich, von nachfolgenden Buch- 
staben ist es meist nur £, das angehängt wird. 
Der Buchstabe i erscheint in drei Formen: erstens, wie eben erwühnt, angehängt an d, f, g, 
h, r, t, was ungemein häufig vorkommt; zweitens selbständig in kurzer Form, selbst nach den soeben 
1) Beachtenswert ist das unter die Zeile reichende c in der Vorsilbe con- (STEFF. 23=25Db, 
Z. 21, aber auch sonst). 
  
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