Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

  
72 B. Bretholz: Lateinische Paläographie. 
Kanzlei hat es mit verursacht, daß Originaldokumente dieser Schreibstätte erst seit 
dem Ende des 8. Jahrhunderts sich erhalten haben. P. Hadrians I. Brief vom J. 788 
(JAFFE-E. 2462) gilt als das älteste Beispiel dieses Bestandes.!) 
Die Schrift, die uns in diesem Dokument und in den weiteren Erzeugnissen der 
päpstlichen Kanzlei entgegentritt, nennt man die Kuriale, weil die Kurie ihr vornehm- 
lichstes Zentrum bildet. Sie ist aber nicht auf dieses Gebiet beschränkt gewesen, sie 
wurde auch in den Klöstern und in den Ämtern Roms und der nächsten Umgegend 
geschrieben, nur daß die Belege aus diesen Kreisen noch jüngeren Datums sind und 
eigentlich nicht vor dem 10. Jahrhundert beginnen.?) Unter Kurialschrift kann somit die 
scriptura Romana notaria subsumiert werden. 
Für die Geschichte dieser beiden Sehwesterschriften ist die Frage, die bereits eingehend 
erôrtert worden ist, von grofler Bedeutung, ob die rómischen Privaturkundenschreiber auch die 
Schreibgeschäfte der püpstlichen Kanzlei besorgt haben, ob zwischen beiden Gruppen ein so reger 
und häufiger Austausch bestand, daß deren schriftliche Operate, die päpstlichen und privaten 
Urkunden, den Entwicklungsgesetzen der gleichen Schule und Tradition unterliegen. HaARTMANXN?), 
der diese Ansicht vornehmlich auch für die Zeit des 10. und 11. Jahrhunderts vertritt, stützte sich 
auf die Übereinstimmung der beiderseits als schreibende Beamte vorkommenden Namen und auf die 
Verwandtschaft der Schrift in beiden Urkundengruppen. Dagegen hat KEHR*) diese Annahme ent- 
schieden bestritten, die Namensgleichheit als zufällig erklärt, die Divergenzen im Duktus der 
Schriften, die einem und demselben Namen zugewiesen werden, betont und nur so viel gelten 
lassen, daß gelegentlich und ausnahmsweise ein Übergreifen aus einer Sphäre in die andere vor- 
gekommen ist. 
Für die Erkenntnis der Fortbildung sowohl der Kuriale seit dem Ende des 8. als 
der römischen Notariatsschrift seit dem 10. Jahrhundert bildet das überlieferte Material 
wohl eine genügende Unterlage5) ; nur ihre Herausgestaltung aus der jüngeren rómischen 
Kursive, die beiden zugrunde liegt, läBt sich bei dem Fehlen der Mittelglieder nicht 
leicht erkennen.) Bei der Kurialschrift tritt das kalligraphische Moment als charak- 
teristisches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Kursive in den Vordergrund. Das 
Bestreben, die Mängel der Schnellschrift zu überwinden, reine und schóne Schriftwerke 
zu schaffen, zwingt zu Veränderungen, die der Schrift ein neues Gepräge geben; Schule 
und Tradition führen zu ihrer typischen Gestaltung, die sich hier Jahrhunderte hindurch 
besonders streng behauptet. Ob wir den schon erwähnten Papstbrief von 788, das älteste 
im Original erhaltene Papstprivileg von Paschal I. von 819 (Spec. T. 1), das von KEHR 
als Typus der pápstlichen Urkundenschrift besonders namhaft gemachte Privileg 
Benedikts III. von 855 (Spec. T. 2), oder die jüngste auf Papyrus geschriebene püpst- 
liche Urkunde Benedikts VIII. von 1022 (AgwpT-TANGL Taf. 80) betrachten, — der 
Grundzug ist überall der gleiche und die Eigentümlichkeiten der Kuriale treten hier 
wie dort zutage.") 
  
1) Faks. bei PFLUGK-HARTTUNG, Specimina T. 101. 
2) Vgl. P. Krmr in GGA. 1896, S. 15/16. 
3) L. M. HARTMANN, Ecclesiae s. Mariae in Via lata tabularium I (1895), S. XIITf£., II (1901), 
p. XI/XIT. — 150 Urkunden aus der Zeit von 921—1116 und 28 Tafeln in Lichtdruck. 
4) P. Kzuma in GGA. 1896, S. 14, 1902, S. 188. Den Kzxunschen Standpunkt teilt auch 
M. Taner in MIÓG. XVIII, 626 unter Beibringung neuer Belege für das 19. Jahrh. 
5) Für Papsturkunden vgl. aufer Prruak-HanrTUNGS ,Specimina" auch das Verzeichnis 
von Faksimiles von Papsturkunden, das W. DrgkaAw? in HJ. IV (1883), 388, 681 gegeben hat. — 
Über das ältere Material an römischen Privaturkunden unterrichtet P. Krrr in G GA. 1896 und in 
einem zweiten Aufsatz „Über eine róm. Papyrusurkunde zu Marburg" in Abh. K. Ges. Wiss. zu 
Góttingen, phil.-hist. CL, NE. I (1986 7), 18. t 
6) In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dab A. MoNacr (A. della R. società Romana 
di storia patria VIII, 245, IX, 283) betreffs des Ursprungs der Kuriale die Ansicht ausgesprochen 
hat, daB ihre Eigentümlichkeiten zum Teil auf Einflüsse der griechischen Schrift zurückgehen, 
eine Ansicht, die aber von der Mehrzahl der Paláographen zurückgewiesen wurde; vgl. KEHR a. a. O. 
S. 11, MIÓG. VIII, 117, BRzssrAv, Urkundenlehre S. 907, Anm. 4; mehr zustimmend scheint sich 
PFLUGK- HARTTUNG zu verhalten, vgl. HZ. LV, 74, 
7) Eine genaue Charakterisierung der Schrift bei Kerr, , Uber eine romische Papyrus- 
urkunde" 8. 11. 
  
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