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Zweiter Hauptabschn. :. Entwickel. d, lat. Schrift. Siebentes Kap.: Die Entwickel. d. Schrift usw. 81
müglich sein, wenn für mehrere der damaligen , Handschriftenwerkstátten" ühnliche
Untersuchungen vorliegen werden, wie für St. Martin von Tours die berühmte Arbeit
von LEOPOLD DEursLE.!) Allerdings mußte dieses Kloster das Interesse der Paläo-
graphen in erhöhtem Maße auf sich ziehen, denn hier wirkte von 796 bis 804 niemand
Geringerer als Alcuin selbst, nicht nur als Abt und Leiter einer der reichsten und an-
gesehensten fränkischen Stiftungen, sondern als Lehrer und Reformator der dortigen
Klosterschule. Es drängte sich von selbst die Frage auf, ob hier von den Bewegungen,
die in Karls Periode in der Schriftentwicklung obwalten, eine merkliche Wirkung
wahrzunehmen ist, ob Alcuins Tätigkeit sich auch unmittelbar auf die Schrift-
reform bezog.
DELISLE hat zunächst an fünfundzwanzig Handschriften, die heute verschiedenen
französischen, englischen und deutschen Bibliotheken angehören, nachgewiesen, daß
sie aus der Schreibstube von Tours hervorgegangen sind.?) Allerdings ließ es sich bei
keinem einzigen dieser Manuskripte nachweisen, daß es unter den Augen Alcuins ent-
standen, sie dürften erst in die Zeit seiner Nachfolger fallen, deren erster Fredegisus
sein Schüler war. Allein schon der Umstand, daß man an einer so stattlichen Zahl
zusammengehöriger Werke untersuchen konnte, welche Schriftarten in einer frän-
kischen Klosterschule des 9. Jahrhunderts in Übung standen, war von größter Be-
deutung. Das Charakteristische dabei ist der sichtliche Bruch mit der unmittelbaren
Vergangenheit, denn weder merowingische noch irisch-angelsächsische Schrift —
Alcuin war doch selber Angelsachse und in seiner Handschrift, die aber nicht bekannt
ist, dürfte sich seine Abstammung wohl kaum verleugnet haben — tritt hier auf. Da-
gegen ist man in Kapitale, Unziale und Halbunziale wohl bewandert; und auf diese
Renaissance der Majuskelschriften in karolingischer Zeit ist es zurückzuführen, daß
fortan die Kenntnis und Anwendung von Kapital- und Unziallettern nicht mehr ver-
loren gegangen ist. Für die Kapitale und Unziale, die in Tours geschrieben wurde,
bildeten alte Handschriften die Vorlagen; aber nur bezüglich der ersteren, betont
DELISLE, hätten die Schreiber die Nachahmung auf das genaueste durchgeführt, in der
Unziale mache sich dagegen eine Gesuchtheit (recherche) und Schwerfälligkeit (lourdeur)
bemerkbar, die eine Unterscheidung von der klassischen Schrift ermôglicht.
Die Schrift aber, die in allen Tourser Handschriften wiederkehrt — TRAUBE sagt
einmal, man kónnte darin gleichsam die ,Fabrikmarke" von Tours sehen — ist ein
bestimmter Typus der Halbunziale. DELISLE hat diese ,karolingische Halb-
unziale", wie er sie bezeichnet, im allgemeinen und besonderen zu charakterisieren
versucht (S. 7.)%)
Dazu gehórt vor allem die Rundung und Weite der meisten Buchstaben und die Verdickung
der Oberschäfte; ferner sind ihr einige Buchstaben eigentümlich: das gleichsam aus c mit ange-
setztem « bestehende a, das in drei Strichen gebildete g ,, 5 “, weiters m, dessen letzter Schaft stark
naeh links eingebogen ist, /D, und háufig angewandtes Majuskel-N; charakteristisch ist schlieBlich
auch die Ausgestaltung des oberen Bogens, beziehungsweise der Zunge bei f, / und r.
Aber nicht nur in Tours, sondern auch in anderen Zentren wurde im 8. und 9. Jahr-
hundert in Kapitale und Unziale geschrieben. Für die Bibelhandscliriften der karo-
lingischen Zeit gewinnt die regenerierte Majuskelschrift die allergróBte Bedeutung.4)
Godessealks Prachtwerk, die sogenannte Evangelienhandschrift von St. Sernin, die
Nürnberger Fragmente des Utrechter Psalter, der Codex millenarius von Krems-
1) Mémoire sur l’école calligraphique de Tours au IX° siècle. (Extrait des Mém. de l'Acad,
des inscriptions et belles lettres, XXXIL) Paris 1885.
2) Vgl. hierzu die Ergänzungen bei TrAvsE in NA. XXVII, S. 967ff.
3) Beispiele s. bei Srurrens T. 46b (Trierer Kodex der Apokalypse des h. Johannes s. IX.
med.), 46c (Sakramentar von Autun v. J. 845); fehlen in der 2. Aufl.; s. dafür die gleich zu
nennenden Blätter aus der Alcuinbibel, sowie den Berner Virgil (T. 102-55...
4) Vgl. die Anzeige P. ConsseNs von BzRGER, Histoire de la Vulgate in GGA. 1894; S. 872,
Grundri8 der Geschichtswissenschaft I. 2. Aufl. 6