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Die soziale Gliederung 9
Für die Zeit der Wanderung der Germanen müssen wir ganz einfache soziale
Verhältnisse annehmen. Viele Kriegsgefangene waren auf der Wanderung nur Ballast,
man schleppte sie nicht mit sich herum, sondern opferte sie den Göttern. Nur die aller-
nötigsten Knechte wird man mitgeführt haben. Die Volksgenossen aber standen sich
alle sozial gleich gegenüber. Ein größeres Ansehen gab nur hervorragende Tüchtigkeit
und Zugehörigkeit zur engeren Familie des Führers, beides aufs innigste zusammen-
hängend, da man die Tüchtigen als Führer wählte. Das primitive soziale Bild
der Urzeit zeigt also eigentlich nur einen Stand, die Vollfreien. Unter ihnen beginnen
sich einige Wenige durch besonderes Ansehen abzuheben, während andererseits eine
geringe Zahl Unfreier ihnen beigesellt ist.
Nach dem Seßhaftwerden ist die soziale Gliederung vielgestaltiger geworden.
Es unterscheiden sich Adelige, Mittelfreie, Gemeinfreie, Halbfreie, Freigelassene und
Unfreie. Dabei sind rechtlich Adelige und Freie noch nicht geschieden und sind da-
her zusammen in einem Stand.
1. Der Stand der Freien.
Bald nach der Ansiedelung hat sich eine soziale Verschiebung unter den Freien
herausgestellt. Es entsteht eine Dreiteilung. Nach oben schichtet sich der Adel ab,
die Hauptmasse wird gebildet von den báüuerlichen Freien, den Gemeinfreien, und
zwischen beiden in der Mitte stehen die Mittelfreien. Die Adeligen werden primi,
principes, optimates, nobiles genannt, die Mittelfreien: mediani, mediocres, die Ge-
meinfreien: liberi, minoflidi, minores, inferiores.
a) Der Adel.
Tacitus!) sprieht von der nobilitas, aus der die Kónige entnommen wurden.
Dadurch ist der Adel bezeugt als das Kónigsgeschlecht; die Zugehórigkeit zur Familie
des Kónigs bedingte den Adel. In den Staaten ohne Kónigtum entsprechen die prin-
cipes in gewissem Sinne den Kónigen; die Zugehórigkeit zur Familie der prineipes wird
daher in gleicher Weise ein höheres Ansehen verbürgt haben wie die Zugehörigkeit zur
Kónigsfamihie.?)
Geschlossen als ein besonderer Stand war der Adel noch nicht, das geht schon
daraus hervor, daB Tacitus fortfáhrt: duces ex virtute sumunt. Wird man nun zwar
als dux meist den Tüchtigsten unter den principes erwählt haben, so ist diese Wahl
doch nicht unbedingt auf die prineipes beschrünkt gewesen, und es konnte auch ein
hervorragend tapferer Freier zum dux erwühlt werden. Er und seine Nachkommen
erwarben dadurch großes Ansehen und stiegen so auf in die Reihe der Adeligen. Die
Wahl des Ostgoten Witiges ist dafür Beweis.3) Es ist dadurch bezeugt, daß das Volk
nicht verpflichtet war, einen Untüchtigen zu wählen nur wegen seiner Zugehörigkeit
zum Adel; aber im allgemeinen kehrte die Wahl immer wieder zu den Adeligen zurück,
denn sie hatten seit alters her das Vertrauen, sie hatten sich bewährt als Führer und
Berater. *)
1) Germania c. 7: reges ex nobilitate . . . sumunt.
2) Demgegenüber sei auch die Auffassung notiert, daß nur bei Völkern mit Kônigtum, nicht
in Volksstaaten, der Adel sich gefunden habe. Andere frühere Versuche, den Adel zu erklären aus
größerem Grundbesitz, aus der Schutzherrschaft über andere Klassen des Volkes, aus erblichem
Priestertum, aus einem besonderen Ritterstand u. a. siehe bei WArrz, Vfg. I?, S. 169f., auch MürrEN-
HOFF, Deutsche Altertumskunde IV, S. 193f.
3) BRUNNER, Rechtsgeschichte I?, S. 139.
4) HEUSLER, Vfg. S. 6f. macht darauf aufmerksam, daß in den demokratischen Schweizer-
kantonen sich ganz ähnliche Verhältnisse durch die Jahrhunderte erhalten haben. „Die Reding in
Schwyz sind in konstantem Besitze der Ehrenämter ihrer Länder, mit jubelndem Mehre beruft sie
die Landgemeinde zu den Würden des Landammanns, des Landesfähnrichs‘“ usf.